Die Worte meines Vaters

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Von Gerald Beyrodt

Eines Morgens sagte mein Vater, er habe vor dieser und jener Sache eine „Judenjungenangst“. Es war ein Gespräch mit meiner Mutter auf dem Wohnungsflur. Sie hat geantwortet: „Du weißt, das ich diesen Ausdruck nicht schätze.“

Ich war halbwüchsig, 14 oder 15 vielleicht, in den Achtziger Jahren, und habe das Gespräch durch die geschlossene Jugendzimmertür mitbekommen. Den Ausdruck von der Judenjungenangst habe ich nie wieder gehört.

Meine Mutter war Jüdin, mein Vater Christ. Meine Mutter hatte in England überlebt, mein Vater war im Krieg in Deutschland aufgewachsen, in Thüringen. Oft habe ich Reime aus der Nazi-Zeit gehört „Jeder Tritt, ein Britt, jeder Stoß ein Franzos.“ Mein Vater rezitierte sie in einem mokanten Ton, so als würde er dagegen rebellieren müssen. Mokanter Ton oder nicht – ich fand das Verse-Rezitieren peinlich.

Immer wieder sagte er, sein älterer Bruder habe im Krieg beide Beine verloren für „Führer, Volk und Vaterland“. In der Tat lief mein Onkel auf Prothesen. Der verwendete gerne die Wendung, diese und jene Sache habe man „bis zur Vergasung“ betrieben. Offenbar dachte er sich nichts dabei.

Mein Zwischendrinsein zwischen jüdischen und nicht jüdischen Deutschen hat mich vermutlich sensibel gemacht für die Sprüche aus der Zeit des Nationalsozialismus oder wo immer sie her sein mochten. Doch bestimmt haben viele andere solche Sprüche auch gehört, waren geprägt von dem, was ihre Familien über Juden dachten oder was sie in der Zeit des Nationalsozialismus erlebt haben.

Nie habe ich in der Öffentlichkeit ein Gespräch über solche Prägungen gehört. Nie haben etwa Mitschüler erzählt, dass auch sie solche Sprüche gehört hätten. Allerdings habe auch ich in meiner Schulzeit nichts davon erzählt. Eines kann ich mir nicht vorstellen: dass ich als einziger solche Sprüche gehört habe.

Ich glaube, dass uns ein Gespräch über unsere Prägungen voranbringen würde in Deutschland. Wenn wir über Nahost diskutieren oder über Antisemitismus in Deutschland, wäre es gut sich klar zu machen, dass wir alle keine Unbeteiligten sind. Prägungen, die nicht benannt werden, wirken weiter und spielen eine Rolle. Meistens eine ungute.


2 Antworten

  1. Juna

    Ich hörte solches in der Schule, immer wieder – und das war in diesem Land, aus dem doch alle Nazis vertrieben wurden. Ich verstand so vieles nicht. Ich lernte, wie Du wohl, zu beobachten und bin sehr sensibel auf Sprache geworden, aber auch, weil ich von Beginn an mitbekam, wie wichtig die Sprache hat und was wir damit anrichten können. Danke für diesen Anstoß!

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  2. Marguerite Marcus

    „Das geht hier zu wie in einem jüdischen Karussell“, hörte ich von einer Ordensschwester in einem Krankenhaus, als ich mit 17 Jahren dort ein Praktikum machte. Ich dachte, das kenne ich noch nicht. Ich kannte den Ausdruck, „das geht zu wie in einer Judenschule“, oder sieht aus, „wie bei der Rebbizin unter dem Bett“.

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