Trauerrede auf meine Mutter

Avatar von jakob68

Ich kann euch gar nicht sagen, wie traurig ich bin. Es gibt Momente, in denen ich es fast nicht zum Aushalten finde. Dann wieder habe ich das Gefühl, die Tage seit Samstag seien ein Albtraum, aus dem man erwachen könnte.

Von Gerald Beyrodt. Gehalten bei der Beerdigung am 29. August 2024

Zwischen meiner Mutter und mir gab es eine große Zuneigung. Ich denke, genauso war es für … – meinen Bruder. Wir werden Ursula immer lieb haben.

Ursula hat ihre Zuneigung uns gegenüber nicht so direkt ausgedrückt. Sie war da in ihrem Gefühlsausdruck reduziert. Wir mussten uns vieles dazu denken. Ich glaube, das, was sie ausgedrückt hat, war das, was ging.

Ursula hat die Schoa in England überlebt in einem Kinderheim. Ich werde den Jüdinnen und Juden immer dankbar sein, dies dieses Kinderheim finanziert haben. Ich kann mir denken, dass man es bei der Biographie nicht leicht hat, Gefühle auszudrücken.

Sie hat mir einmal erzählt, wie schön es war, als sie bei einer Mitschülerin eingeladen war. Die hatte eine Mutter und es gab etwas Schönes zu essen. Alles Dinge, die sie entbehren musste.

Sie hat als Juristin Karriere gemacht in einer Zeit, als das für Frauen noch sehr unüblich war. Ich weiß gar nicht, ob sie von „Karriere“ gesprochen hätte. Das Recht ist ihr wichtig gewesen.

Ich habe von ihr nie irgendeine Klage gehört, dass sie als Frau zurückgesetzt gefühlt hätte. Oder als Jüdin. Sie war so klaglos, dass ich es fast schon unheimlich finde. Das Wort Feministin hätte sie nicht für sich benutzt. Sie war es vielleicht mehr durch ihr Handeln als durch Worte.

Sie ist immer sehr klar gewesen. Sie konnte einen Sachverhalt glasklar erkennen und in Worte fassen. Sie hat nie den roten Faden verloren. Und sie war nüchtern. Dazu passt, dass sie berlinert hat.

In Berlin hat sie nur die ersten Lebensjahre verbracht, aber sie hat mit dem Berlinern nie ganz aufgehört. Ich finde, Berlinisch kann einen so wunderbar auf den Boden der Tatsachen bringen, „weeste“. Sie war trotz ihrer Karriere bescheiden und hat sich auch in Sachen Kleidung immer sehr zurückgehalten. Selbstüberschätzung wäre ihr nicht in den Sinn gekommen.

Wir haben eben von dem englischen Romantiker William Wordsworth das Gedicht über die Daffodills, die Narzisen gehört. Am Ende der Tanz mit den Narzissen. Ein Gedicht, das Ursula auswendig konnte. Sie hat die Natur geliebt, sie hat ihren Garten geliebt. Da konnte man ihre Gefühle spüren.

Die Liberale jüdische Gemeinde ist ihr wichtig gewesen. Sie hat jeden Abend das Schma gesprochen, das Höre Israel, den Text, der im Judentum einem Glaubensbekenntnis am nächsten kommt. Und: Es ist ihr wichtig gewesen, trotz der Karriere eine Familie zu haben.

Eine jüdische Formel lautet: Möge ihr Andenken ein Segen sein. Ich habe diese Formel in den letzten Tagen häufig gehört. Ich kann gar nicht genau sagen, wie und in welcher Hinsicht Ursulas Andenken ein Segen sein wird und worin ich diesen Segen in der Zukunft sehen werde.

Jetzt ist in diesem Moment lerne ich von ihr: Tun, was geht. Machen, was möglich ist. Trotz aller Schwierigkeiten den Schritt gehen, der sich machen lässt. Da hat sie viele Wege gefunden, ein gutes und glückliches Leben zu führen.

Und: Jenseits aller Worte und Gesten gab es diese Zuneigung.

Mutter, wir werden Dich immer lieb haben. Danke für deine Zuneigung und dein Verstehen. Gute Reise.


3 Antworten

  1. rnaukur

    Mein herzliches Beileid und viel Kraft wünwshe ich Dir. Ruth

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  2. Nira Scherer

    Lieber Gerald,Was für bewegende Worte!Ich wünsche dir Trost, Kraft und gute Erinnerungen,Sei umarmt Liebe Grüße,Nira שלא תדעו עוד צער–Gesendet mit der GMX Ma

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  3. Trauern – Alles wieder gut

    […] darf bei der Beerdigung sprechen und darf erzählen, wie traurig ich bin. Immer wieder kippt mir die Stimme, immer mal wieder muss ich lange Pausen machen, weil sich Tränen […]

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