Antwort auf eine Frage, die keiner stellt

Avatar von jakob68

In den ersten Tagen nach dem 7. Oktober bin ich wirklich häufig gefragt worden, wie es mir denn geht. Die Frage ist nun nicht mehr zu hören. Dabei könnte ich sie gerade jetzt so gut gebrauchen.

Von Gerald Beyrodt

Es war bei einer der ersten Demonstrationen nach den 7. Oktober. Da sagte einer der Redner, dass die Stimmung in Deutschland jetzt für Israel sei. Doch wenn sich Israel wehre, sei zu erwarten, dass sich die Stimmung drehen werde. Genau das ist eingetreten. Kein Tag vergeht ohne Rufe nach „Verhältnismäßigkeit“ und nach „Feuerpausen“.

Was ist „verhältnismäßig“, wenn israelische Städte immer noch von Raketen bedroht werden? Der Ruf nach Verhältnismäßigkeit klingt, als würde Israel diesen Krieg einfach ohne Grund führen. Aus dem Blick gerät, wer diesen Krieg begonnen hat. Wenn man die Diskussion verfolgt, könnte man meinen, Israel wäre es gewesen.

Aus dem Blick gerät auch, dass dieser Krieg mit einem Pogrom angefangen hat, mit großer Lust am Morden und Vergewaltigen. Aus dem Blick gerät, dass es immer noch Geiseln gibt, und dass die Hoffnung kleiner wird, dass sie jemals lebend nach Hause kommen können. Aus dem Blick gerät, wer diesen Krieg sehr, sehr leicht beenden könnte.

In der Diskussion scheint nur allzu klar zu sein, wer die Guten und wer die Schlechten sind, wenige Monate nach einem bestialischen Pogrom. Woher diese Lust am Urteilen und Verurteilen? Wieso wissen so viele ganz genau, dass Israelis die Täter sind? Wieso richtet sich die Empörung über getötete palästinensische Zivilistinnen und Zivilisten so stark gegen Israel und so wenig gegen eine Regierung, die die eigene Bevölkerung zu menschlichen Schutzschilden macht? Wieso müssen jetzt so viele ganz dringend sagen, was richtig und was falsch ist, wenn sie es bei ganz vielen anderen Konflikten nicht tun?

Erzähle mir keiner, dass das alles nichts mit Antisemitismus zu tun hat. Es gehört zu den perfiden Eigenschaften des Antisemitismus, dass er sich so gut mit Gerechtigkeitsdiskursen mischt. Wer ohne allzu große Differenzierung sagen möchte, wer die Guten und wer die schlechten sind, wer die Unterdrücker und wer die Unterdrückten sind, der landet immer schnell beim Antisemitismus. Das ist in Europa Gewohnheit und seit vielen Jahrhunderten eingeübt.

Wie in aller Welt soll man sich als Jude in Deutschland von den gegenwärtigen Diskussionen und Parteinahmen nicht gemeint fühlen? Ich habe den Eindruck: Bei den wenigsten Statements zum gegenwärtigen Krieg geht es wirklich um Israel und Gaza. Vielmehr scheint es um die Abwehr empfundener Schuld zu gehen. Ich erlebe in Deutschland sehr wenig Nachdenken über das, was die Generation der im Nationalsozialismus Aufgewachsenen weitergegeben hat. Es scheint leichter zu sein, den Finger auf Israel zu zeigen als über sich selbst nachzudenken.

Ich habe nach dem 7. Oktober so häufig die Frage gehört, wie es mir geht. Jetzt höre ich sie nicht mehr. Dabei könnte ich sie so gut gebrauchen. Da mich keiner fragt, beantworte ich sie ungefragt. Schlecht geht es mir! Ich habe Angst. Ich nehme wahr, wie sich die Diskussion gedreht hat, und ich fühle mich bedroht.


2 Antworten

  1. Leopoldo Lipstein

    Sehr guter Artikel, danke!

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  2. Anja

    Mir geht es genau so wie dir, und der Song der Antilopen Gang bringt es auch auf den Punkt, nur zum mitsingen. Letztens hat die Moderatorin von Inforadio Berlin von der Hamas Revolte gesprochen. Nur ein Lapsus? Aber wie kommt es zu so einem Versprecher, falls es einer war?

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