Von Gerald Beyrodt
Man kann französische Politik kritisieren, man kann belgische Politik kritisieren, man kann chinesische Politik kritisieren, man kann die Urteilskraft und die reine Vernunft kritisieren, man kann die niederländische Küche kritisieren, man kann schwedische Küche kritisieren, man kann Speisekarten kritisieren, Tiramisu kritisieren, man kann alles kritisieren.
Selbstverständlich kann man auch die Politik, die israelische Parteien vertreten, kritisieren. Kritik kommt von Griechisch krino, unterscheiden. Und das ist die Grundbedingung jeder Kritik: Sie muss Maßstäbe haben und sie muss der Unterscheidung dienen. Wenn sie maßlos wird, ist sie keine Kritik mehr.
Das macht die die Sache mit der Israelkritik ein bisschen schwierig. Denn einerseits ist es völlig o.k. , Netanjahu oder Gantz zu kritisieren, israelische Taxis überteuert, manche israelische Männer testosterongesteuert und manche ältere israelische Damen überschminkt zu finden. Und ja, es ist auch in Ordnung, sich im Westjordanland eine andere Politik zu wünschen, als Netanjahu sie vertreten hat.
Aber Israelkritik? Es fällt doch auf: Der Online-Duden kennt das Adjektiv „Israelkritisch“, aber nicht die Adjektive „chinakritisch“ oder „ungarnkritisch“. Selbstverständlich könnten wir trotzdem von Chinakritik oder Ungarnkritik sprechen, die deutsche Grammatik hat kein Problem mit solchen Wortverbindungen.
Der Punkt ist: Die Worte „Ungarnkritik“ und „Chinakritik“ fallen so selten. Man kritisiert Orban oder den chinesischen Volkskongress, man wünscht beiden Ländern mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, aber man stellt nicht infrage, ob es Ungarn oder China geben darf. So kann man die Worte Chinakritik und Ungarnkritik aber verstehen. Die Wortverbindung legt dieses Verständnis nahe. Wer sich qualifiziert zu Orban oder zum chinesischen Volkskongress äußern will, vermeidet das.
Das Wort Israelkritik hat auch den Anklang des Grundsätzlichen. Wer das Wort gebraucht, muss riskieren, dass andere denken, er halte das Land als ganzes für illegitim. Und er hätte Möglichkeiten, dieses Verständnis zu vermeiden. Er könnte einfach sagen, welche Aussage von Netanjahu oder israelischen Rechten ihm zu weit geht oder was im einzelnen er einzuwenden hat. Wer nebulös von unspezifisch von Israelkritik plappert, riskiert es, falsch verstanden zu werden oder vielleicht genau richtig. Er handelt fahrlässig.
Denn es gibt einen Hintergrund in Deutschland und Europa: Es gibt einen Antisemitismus, und besonders stark ist der israelbezogene Antisemitismus. Niemand spricht im luftleeren Raum. Wer Israel oder israelische Politik kritisieren möchte, tut gut daran, sich von dumpfer Hetze abzuheben.
Das ist sehr einfach. Das geht mit klarer Argumentation und Sachkenntnis, eher nicht mit fundamentalem Verdammen. Wer letzteres wählt, leistet mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Antisemitismus Vorschub. Allzu oft ist „Israelkritik“ ein Euphemismus, eine Schönrednerei, für Antisemitismus.
Oft werden israelfeindliche Aussagen mit dem Satz verknüpft, man dürfe Israel nicht kritisieren. Ein Satz, der jeden Tag widerlegt wird, weil Kritik am Handeln israelischer Politiker jeden Tag in deutschen Medien zu finden ist. Und in israelischen Medien auch. Der Satz vom Nicht-Kritisieren-Dürfen ist selbst zum Stereotyp geronnen.
Wer Kritik üben möchte, der tut gut daran zu zeigen, dass es sich um Kritik handelt, die den Namen verdient: dass er Argumente hat und nicht Vorurteile, dass er bereit ist, Aussagen zu revidieren, und dass er dazu lernen will.

Hinterlasse eine Antwort zu Leopoldo Lipstein Antwort abbrechen