Überall lauert die Sünde.
Irgendwie ist sie echt unmodern geworden: die Sünde. Und doch taucht sie überall auf: als Klimasünde, Konsumsünde, Diätsünde. Und letzte schlägt besonders bei Kaffee und Kuchen zu. Gespräch an einer Kaffeetafel. Eine Glosse aus den Jahr 2017 (geschätzt).
Von Gerald Beyrodt
In seiner Kindheit war die Werbung noch so richtig normativ, schwärmte Peter, während er mit der Kuchengabel ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte in kleine Teile zerlegte. Da hatte die Werbung noch keinen Humor, warb nicht für den Spaß am Waschen oder für irgendwelche Wohlfühlklamotten. Ständig traten Hausfrauen auf, die permanent ein schlechtes Gewissen hatten. Und hatten sie mal keines, dann wurde es ihnen gemacht. Es reichte nicht, wenn die Wäsche „sauber“ war, sie musste auch „rein“ sein. Und auch das reichte nur bedingt. Die Wäsche musste „porentief rein“ sein.
„Hat denn Wäsche überhaupt Poren?“ fragte Simone, fünfzehn Jahre jünger. Das wusste keiner von uns zu beantworten. Und: keiner hatte die Frage jemals gestellt. Zu beeindruckt waren wir gewesen von den Flecken, die sich erst zeigten, wenn man Hemden und Blusen gegen das Licht hielt. Simone ließ sich haargenau jedes Detail der Waschmittelwerbung schildern und befand dann, dass das es nur oberflächlich um Waschmittel gehe. In den Poren lauere die Erbsünde. „Da kannst Du noch so sauber oder moralisch vorbildlich sein“, sagte sie, „ tief in deinem Inneren steckt die Sünde, da bist du befleckt.“ Auch ein neugeborenes Kind sei im Christentum sündig. Non posse no peccare, nicht sündigen gibt’s nicht. Probates Mittel gegen die Sünde sei die Taufe. Immer gehe es um Befleckung, ums Sauberwerden und um Wasser. Tja, und da hätten doch die Waschmittel mit ihrer Anti-Flecken-Werbung eine humane Alternative geboten.
„Wir alle“ sind schuld
„Und wenn ich Geld für das Waschmittel ausgebe, ist das der Ablass?“ wollte Max wissen. Dann schenkte er neuen Kaffee ein, sehr vorsichtig, deutlich darauf bedacht, keine Flecken zu verursachen, Flecken, die nie wieder weggehen. Dann fragten wir uns, ob es heute noch Befleckungen gibt, die man erst sieht, wenn man sie gegen das Licht hält. „ich habe zum Beispiel neulich ein Interview mit einem Sportwissenschaftler gehört, der sagt, ich sei schuld am Doping“, sagte Simone. Das Simone am Doping schuld sein sollte konnten wir uns alle nicht vorstellen, zumal sie keine Gelegenheit ausließ, ihre Unsportlichkeit zu betonen. Dass Doping-Mittel dagegen helfen sollten – kaum vorstellbar.
Aber dann erklärte sie, was sie meinte: „Er meinte, wir alle seien schuld am Doping, denn schließlich wollten wir Sportler, die Medaillen gewinnen.“ Das wollten zwar einige von uns tatsächlich, aber niemand wollte sich so richtig schuldig bekennen. „Dass ich gerne Medaillengewinner sehe, heißt doch noch nicht, dass sie mit unlauteren Mitteln aufs Treppchen kommen sollten“, meinte Peter.
Eines aber schien uns sonnenklar: dass es beliebt ist zu behaupten, wir alle sind schuld. An zu viel Plastiktüten. Am Treibhauseffekt. Daran, dass zu viel Essen weggeworfen wird. „Sind es nicht wir alle?“ kalauerte Max und meinte, die Behauptung, wir alle seien schuld, komme aus der christlichen Predigt. „Natürlich meinen Pfarrer, die das sagen, nicht wirklich ‚wir alle‘ sondern ‚‘ihr alle‘: ihr armen Sünder, ihr Verstockten, ihr Ökoschweine und Proleten.“ Denn der Pfarrer selbst halte sich für porentief rein.
Lust am Schuldgefühl?
Und noch etwas fiel uns auf: dass die Lust, sich kollektiv schuldig zu bekennen, groß ist. Dass alle ganz schuldbewusst nicken, wenn die Rede darauf kommt, dass im Supermarkt zu viel Essen weggeworfen wird und dass wir alle daran schuld seien. „Wahrscheinlich steckt den Menschen immer noch in den Knochen, dass sie in ihrer Kindheit den Teller leer essen mussten“, meinte Peter, dessen Kuchenteller sich merklich geleert hatte und sehr in Richtung Diätsünde steuerte. Er jedenfalls sehe es nicht ein, Lebensmittel noch kurz vor dem Haltbarkeitsdatum zu kaufen, und er fühle sich auch nicht schuldig dafür. Na, vielleicht doch ein bisschen. So ist das mit der Sünde. Sei währt länger als die Religion und sie erwischt dich, wo du es nicht erwartest.
Hinterlasse eine Antwort zu jakob68 Antwort abbrechen