Spurensuche

Avatar von jakob68

Im englischen Blackpool hat meine Mutter zusammen mit ihrer Schwester die Schoa überlebt, in einem jüdischen Kinderheim. Die beiden waren die einzigen in dem Kinderheim, deren Eltern überlebt haben. Sieben Jahrzehnte später suche ich in Blackpool nach dem Kinderheim und nach der jüdischen Gemeinde.

Von Gerald Beyrodt

„I’m sorry“, habe ich zu der Dame am Telefon gesagt. Gerade hat sie mich über die Gottesdienstzeiten der kleinen orthodoxen Synagoge von St. Anne’s informiert und wollte sich schon verabschieden. „I’m sorry“, habe ich gesagt, ich hätte noch eine weitere Frage. Meine Mutter sei in einem Kinderheim in Blackpool aufgewachsen, das die jüdische Gemeinde geführt habe. Ob sie wisse, wo das Kinderheim gewesen sei. Die Dame weiß wie aus der Pistole geschossen, dass das Kinderheim in der Hornby Road war. Und auch die Mutter ihres Mannes Philip sei dort aufgewachsen. Ich müsse mich unbedingt mit ihrem Mann Philip unterhalten. Sie fragt mich nach dem Namen meiner Mutter. „Ursula.“ Das sagt ihr nichts. Und die Mutter von Philip? Die hieß Rosa. Rosa habe ich gekannt, als ich ein Kind war. Rosa und ihr Mann Cyril sind mit meiner Mutter und mir in den Lake District Wandern gefahren, als ich ein Kind und auf Englandurlaub war. Sie hatten Zeit und waren schon im Ruhestand. Ich erinnere mich an Rosas hellblond gefärbte Haare.

Zwei Tage später sitze ich im Auto mit dem Sohn von Rosa, Philip. Seine Frau Naomi hat als höfliche Engländerin auf dem Rücksitz Platz genommen. Die beiden, wohl in den Siebzigern, zeigen mir Blackpool. Vor allem interessiert mich das Kinderheim, in dem unsere Mütter untergekommen sind. Auf der Hornby Road wimmelt es von Pensionen. Naomi nennt den Namen der Pension, die mal das Kinderheim unser Mütter gewesen sein soll. Ich habe den Namen inzwischen vergessen. Und er ist nirgendwo zu finden. Keine solche Aufschrift an irgendeinem der Häuser. Aber Naomi weiß, es handelt sich um Hausnummer 270. Es ist inzwischen ein Privathaus. Irgendwie sehen hier die meisten Häuser ähnlich aus. Drei Stockwerke, nicht viel Breite, englischer Townhaus-Stil. Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn es drei Häuser weiter links oder auf der anderen Seite der Kreuzung gewesen wäre? Was sagen die Orte über unsere Identität, über die Identität unserer Mütter?

Ich erzähle Naomi und Philipp, dass die Mädchen die Heimleiterin immer deutsch „die Olle“ genannt haben. Ein Leben lang hat mir meine Mutter von „der Ollen“ erzählt, bei der es keine Liebe gegeben habe, die immer nur nett war, wenn die Damen vom Gemeindekomitee anwesend waren. Philip und Naomi können kein Deutsch, Rosa hat ihrem Sohn kein Wort beigebracht. Ich erkläre, dass „die Olle“ „the old one“ heißt, aber auch ein bisschen klingt wie „the ugly one“. Philip ist ganz der höfliche Engländer und findet das „rude“. Ich frage mich, ob seine Mutter einfach andere Erfahrungen gemacht hat als meine. Rosa ist mit zwölf nach England gekommen, Ursula mit sechs. Rosa hat schon gejobbt als junges Mädchen, Ursula musste im Haushalt helfen, wenn sie aus der Schule kam. Und dann denke ich über den Ausspruch meiner Mutter nach, bei der Ollen habe es keine Liebe gegeben. Nur in solchen Verneinungen hat meine Mutter durchschimmern lassen, dass sie sich nach Liebe gesehnt hat. Sie hat auch mal erzählt, dass eine Klassenkameradin sie nach der Schule mit nach Hause genommen hat. Es gab eine liebe Mutter und einen lieben Vater, was Leckeres zu essen, es gab ein Zuhause. Zum Abschied bekam sie noch eine Lutscherstange geschenkt und war selig. Ursula hatte total die Zeit vergessen. Im Heim waren alle besorgt, wo sie denn war. Es war Krieg. Sogar Damen vom Komitee waren da. Ursula bekam eine kräftige Standpauke, aber das war ihr völlig gleichgültig.

Ich mache ein Foto von der Tür mit Hausnummer 270. Philip und Naomi bleiben im Auto. Als ich das Foto gemacht habe, frage ich Philip, ob er jemals im Haus war. Nein, das sehe ganz anders aus als zur Zeit des Kinderheims. Da könne man nicht mehr sehen, wie die Mädchen gelebt haben.

Die nächste Autofahrt dauert mit Parken kaum fünf Minuten, da zeigt mir Philip die einstige Synagoge von Blackpool. Ein imposanter Backsteinbau, der aber schon Spuren des Verfalls zeigt. 2011 wurde diese Synagoge aufgegeben, erzählt mir Philip, er selbst habe sie verkauft. Die Gemeinde musste sich entscheiden, ob sie diese oder die Synagoge in St. Anne’s weiterbetreibt. Das Gebäude in St. Anne’s sei das bessere gewesen. Philip erzählt mir, in welchem Teil der Synagoge sein Vater gesessen hat, wohl immer auf dem selben Platz. Und ich denke an meine Mutter als Kind auf der Frauengalerie, wo ihr die Parfumgerüche der Damen in die Nase stiegen. So hat sie es mir später erzählt. Am Schabbat werde ich die Synagoge in St. Anne’s erleben: das aschkenasische Hebräisch, das auch meine Mutter gesprochen hat, wenn sie gebetet hat, und das ich so einzigartig fand. Der Tag, jom, heißt im Aschkenasischen joim, und der Schabbat Schabbos. Auf der Frauengalerie werde ich Damen mit den buntesten Hut-Kombinationen sehen. Ich kann mir denken, dass sich ein Heimkind zwischen den Damen womöglich unwohl gefühlt hat.

Meine Mutter hat erzählt, dass die Damen vom Komitee nett waren, aber furchtbar nass geküsst haben und Parfum und Schminke trugen. Für meine Mutter war körperliche Berührung zeitlebens ein heikles Thema. Einmal wollte ich sie massieren, als ich ihr den Rücken eingecremt habe. Sie hätte beinahe aufgeschrien.

Und ich stelle mir vor, dass es meiner Mutter aufgestoßen ist, in der Synagoge kaum eine Stimme zu haben, nie zur Tora aufgerufen zu werden. Sie hat im Beruf ihre Frau gestanden, war Richterin und leitende Ministerialrätin, war in vielen Jobs die erste Frau. Das liberale egalitäre Judentum war ihr immer wichtig.

In Blackpool wollte sie unbedingt auf das Gymnasium. Die Lehrerin hat sich dafür eingesetzt, denn Ursula war Klassenbeste. Doch das hätte weitere Kosten bedeutet. Weiterhin hätten andere für Ursulas Lebensunterhalt aufkommen müssen. Das Komitee hat getagt und entschieden, dass es nur die Realschule werden sollte. Ursula war untröstlich.

Soweit ich sie mir untröstlich vorstellen kann, denn Ursula hat immer Haltung gezeigt. Die Schule muss für meine Mutter eine Art Gegenwelt zum Heim gewesen sein, ein locus amoenus. Da hat sie sich wohlgefühlt. Mit Leistungsdruck hatte sie kein Problem. Geleistet hat sie gerne.

Philip fragt mich, wie meine Mutter nach Hannover gekommen ist. „Meine Großeltern haben überlebt und sind auf wirren Wegen nach Hannover gekommen“, sage ich. Ich frage mich, ob es in Ordnung ist, das zu äußern. Philips Großeltern haben nicht überlebt. Von allen Mädchen im Kinderheim haben nur die Eltern von Ursula und ihrer größeren Schwester Gisela überlebt.

Später wird Naomi sagen: „Rosa wouldn’t talk.“ Philipps Mutter Rosa hat nicht gesprochen über das, was in Deutschland passiert ist, was in ihrem Elternhaus passiert ist, was mit ihren Eltern passiert ist. Schon gar nicht hat sie ihren Kindern deutsch beigebracht. Ich habe mit ihr Deutsch gesprochen, als ich ein Kind war, als Rosa und Cyril uns ins Lake District kutschiert haben. Eher schon hätte Rosas jüngere Schwester Lotti gesprochen. Und jeden Freitag Nachmittag haben die Schwestern Rosa und Lotti auf Deutsch telefoniert.

Ich begreife, was es für ein Glück ist, dass ich eine Mutter habe, die gesprochen hat über das, was passiert ist. Aber vielleicht war es für Ursula auch leichter zu sprechen. Sie hat ihre Eltern nicht verloren. Als meine Mutter nach Hannover kam, wollte mein Großvater, dass sie Latein lernt. Sie konnte nicht mal Deutsch, sollte aber Latein lernen. Natürlich hat Ursula auch das bewältigt.

Philip biegt mit dem Auto in die Zufahrt zum Stanley Park. Ein wunderschöner Park mit grünem Rasen und einem Kiosk, an dem man Eis und Kaffee bekommen kann. Inmitten des Parks: ein kleiner See oder großer Teich. Hier hat meine Mutter Rudern gelernt. Hier hat sie vermutlich langweilige Schabbat-Nachmittage erlebt, denn nach dem Gottesdienst gab es für Heimkinder wohl nicht viel zu tun.

Ich frage Philip und Naomi, wer denn das Kinderheim finanziert habe, ob es das Komitee gewesen sei. Nein, das sei die Idee von Mr Viner gewesen, ein Besteckfabrikant. Der habe es auch bezahlt. Jahrzehntelang habe man in Blackpool von Viners Bestecken gegessen. Nachkommen hat Mr Viner in Blackpool nicht hinterlassen, aber einmal hätten sich Verwandte von anderswo in der Synagoge gemeldet. Ich denke, wie gut, dass jemand im richtigen Moment das richtige getan hat. „I’m so grateful“, sage ich. Und Philip sagt: „I bet you are.“


Eine Antwort

  1. sugalini

    Dein Bericht berührt mich. Meine Mutter flüchtete aus Ostpreußen. Mit elf Jahren zu Fuß im Winter und unterwegs nahm man ihr die Mutter. Meine Mutter erzählte uns Kindern nie etwas aus dieser Zeit. Erst sehr viel später, als ich lange erwachsen war, nur Bruchstücke, Andeutungen. Ich danke meiner Mutter für eine fröhliche, unbelastete Kindheit und denke heute, lange nach ihrem Tod, mit Traurigkeit an dieses umher irrende Kind auf der Flucht mit all seinen Schrecken.

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