Mundgeruch

Avatar von jakob68


Warum ich den Talmud schräg, irritierend und faszinierend finde.

Eine Glosse von Gerald Beyrodt

Elieser war 28, als er den Entschluss gefasst hat, Tora zu lernen. Bei seinem Vater hat das einen Heiterkeitsanfall ausgelöst. Elieser solle sich doch besser in seinem Alter eine Frau suchen und Kinder bekommen. Die könnten dann ja Tora lernen.

28 Jahre: das war offenbar zu Zeiten von Mischna und Talmud steinalt. Ich bin doppelt so alt, und bald habe ich auch das überschritten. An manchen Stellen wird auch berichtet, Elieser sei 22 Jahre alt gewesen. Auch das war offenbar schon steinalt.

Der steinalte Elieser wird noch getoppt von Akiba. Der hat erst mit 40 angefangen zu lernen. Mit 40! Das muss man sich mal vorstellen! Ein wahrer Greis.

Die Rabbinen aus dem Talmud schüchtern mich manchmal ein. Weil sie so früh mit dem Torastudium begonnen haben in der Regel. Weil sie so wahnsinnig gebildet sind und sich mit Bibelzitaten geradezu beschmeißen können.

Immer mal wieder hat mich der Umstand eingeschüchtert, dass ich bei so vielen Talmud-Texten Bahnhof verstehe. Und das, obwohl der Talmud zu einer Zeit geschrieben ist, als es noch keine Bahnhöfe gab.

Oft habe ich beim Lesen von Talmudzeilen gedacht: „Ich verstehe kein Wort.“ Oder: „Worauf in aller Welt wollen die hinaus?“ Oder auch: „Können diese Leute nicht einfach mal sagen, was sie meinen?“

Solche Fragen sind inzwischen weniger geworden. Ich komme mit dem Talmud besser klar als früher. Vielleicht sind die Fragen doch nicht weniger geworden. Vielleicht ist nur meine Frustrationstoleranz größer geworden. Ich weiß inzwischen, dass der Talmud irritieren kann.

Aber er kann auch auch so schräg sein, so albern, so unerwartet, so irre. Da sagen plötzlich „die Weisen“ etwas total Abwegiges. Oder der Talmud lässt uns wissen, dass Elieser Mundgeruch hatte.

Das ist nämlich Rabbi Jochanan aufgefallen. Elieser wollte sein Studium unbedingt durchziehen, bekam von seinem Vater kein Geld, BaföG gabs auch keins, und er hat tatsächlich im Dreck gegessen.

Jedenfalls liebe ich unsere Literatur dafür, dass sie uns von Eliesers Mundgeruch erzählt. Und besagter Rabbi Jochanan verließ das besetzte Jerusalem in einem Sarg. Aus der Stadt kam man nur als Leiche raus. Damit man dem lebendigen Rabbiner die Leiche auch abnahm, kam noch etwas Stinkendes mit in den Sarg.

Was genau da gestunken hat, sagt uns der Talmud meines Wissens nicht. Trotzdem finde ich die Geschichte hinlänglich schräg und faszinierend. Denn: Das ist die Gründungsgeschichte des rabbinischen Judentums. Rabbi Joachanan baute später die Akademie von Jawne auf. Und womit beginnt die Gründung des rabbinischen Judentums? Mit Gestank.

Ich hätte eine Heldengeschichte erwartet. Und in Heldengeschichten kommt üblicherweise sowas wie Gestank nicht vor. Die Odyssee schweigt sich doch sehr aus über den Fußpilz des Odysseus. So sehr, dass ich mir den Fußpilz des Odysseus gerade ausdenken musste. Selbiges trifft übrigens auf Supermanns Warzen zu.

Trotzdem bleibt es einschüchternd, wie früh man zu Zeiten von Mischna und Talmud mit dem Lernen begonnen hat. Und wie viel die Rabbinen wussten. Sowohl Elieser als auch Akiba sind wichtige Rabbinen der Mischna geworden. Und das, obwohl sie schon sooo alt waren, siehe oben. Sie haben sich nicht gescheut, Anfänger zu sein.

Akiba hat nicht nur mit 40 mit dem Tora-Lernen angefangen. Er musste auch überhaupt erstmal die Buchstaben kapieren. Wenigstens etwas. Die Buchstaben konnte ich mit 40 schon.




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