Wo soll er hin, der Schmerz?

Avatar von jakob68

Unser Familienleben in Hannover-Bothfeld war der fleischgewordene Normalitätsversuch.

Von Gerald Beyrodt

Meine Mutter hat ihr Judentum nie vor uns geheimgehalten. Vor uns: vor meinem Bruder und mir. Sie hat nie bestritten, eine Jüdin zu sein. Sie hat ihre Religion auch nie aufgegeben.

Die Geschichten vom Kinderheim in England kenne ich, von der Heimleiterin, die die Mädchen im Kinderheim „die Olle“ nannten, ich kenne sie seit meiner Kindheit. Ich wusste auch, dass Tante Margot im KZ gestorben war, in Auschwitz. Und dass mein Großvater Fritz das KZ Theresienstadt überlebt hatte.

Nicht präsent waren hingegen jüdische Kultgegenstände. Leuchter für Schabbat und Kreisel für Chanukka gab es zwar, wie ich später lernte, aber ganz weit hinten im Schrank.

Auch nicht präsent war irgendeine Form von Schmerz. Kein Schmerz über die verpfuschte Kindheit mit einem Leben ohne Eltern in der Fremde. Kein Schmerz über das, was man ihren Eltern angetan hatte. Ihr Vater hatte schließlich seinen Beruf als Richter verloren. Kein Schmerz über irgend etwas.

Stattdessen lebten wir in einem Reihenhaus in Hannover-Bothfeld. Im Sommer stand ein aufgeblasenes Planschbecken auf dem Rasen im Garten. Meine Mutter hat gearbeitet und war als Juristin etwas erfolgreicher als ihr Mann, auch ein Jurist.

Meine Eltern haben kirchlich geheiratet. Mein Vater ist eigens Mitglied der reformierten Kirche geworden. Bei denen war es möglich, eine Jüdin kirchlich zu heiraten. Als meine Eltern mich taufen ließen, bei einem Pastor in Göttingen, der Studienstadt meiner Eltern, da sind meine Großeltern nicht zur Feier gekommen. Für meinen Vater ein Anlass für abfällige Bemerkungen.

Viel, viel später hat mir meine Mutter erzählt, sie habe nicht gewusst, dass die Kinder einer Jüdin aus jüdischer Sicht auch Juden sind. Als sie mir das sagte, konnte ich es nicht so recht glauben.

Ich war damals der Meinung, wer in einem jüdischen, einem orthodoxen Kinderheim aufgewachsen ist wie meine Mutter in England, der hat sowas gehört. Heute kann ich mir tatsächlich vorstellen, dass dieses Wissen an ihr vorbeigegangen ist.

Würde ich mir wünschen, meine Mutter hätte mich als Juden aufwachsen lassen? Ja, heute würde ich mir das wünschen. Nur wer weiß: Wenn das geschehen wäre, vielleicht würde ich mir heute wünschen, als Christ aufgewachsen zu sein. Jedenfalls frage ich mich das. Es war sicher für meine Mutter nicht leicht, das Richtige zu tun. Vielleicht gab es das Richtige so auch gar nicht.

Unser Leben im Reihenhaus in Hannover-Bothfeld war der fleischgewordene Normalitätsversuch. Die Vergangenheit, obwohl immer präsent, war stets verdrängt.

Aber wo soll er denn hin, der Schmerz, wenn du keine Sprache hast, um ihn auszudrücken? Wenn du immer gelernt hast, dich zusammenzureißen, zusammenzunehmen, Haltung zu zeigen, bloß kein Gefühl zu haben, bloß nicht zu verzweifeln? Vielleicht hat meine Mutter das beste getan, was sie konnte.


Hinterlasse einen Kommentar