Wie vom Donner gerührt

Avatar von jakob68

Ein lockeres Gespräch bei der Arbeit driftet in Richtung „Genozid“-Diskussion. Gemeint ist offenbar die Lage im Gazastreifen. Mittendrin und ziemlich ratlos: ich.

Von Gerald Beyrodt

Ich stehe am Tisch unserer studentischen Hilfskraft Jacqueline in einer Redaktion. Wir reden über dies und das, Wetter, volle U-Bahn, Computerprobleme, eine Sachbearbeiterin kommt dazu.

Plötzlich ist die Rede von Politik. Einige Zeit geht es hin und her. Dass sie gar nicht wisse, wen sie wählen solle, sagt Sachbearbeiterin Renate. Dann erwidert Studentin Jacqueline, sie könne keine Partei wählen, die den „Genozid“ unterstützt.

Wie? Was? Welcher Genozid? denke ich. Ich bin wie vom Donner gerührt. Ich spüre körperlich, dass ich angespannt bin. Ich frage Jacqueline, was sie denn mit Genozid meint. Jacqueline kichert etwas flach.

Sie will sich nicht in die Nesseln setzen, sagt sie. Darauf ich: „Wenn du mit Genozid die Lage in Gaza und Israel meinst, muss ich Dir sagen, dass ich das inakzeptabel und antisemitisch finde.“ An ein Gespräch ist nicht mehr zu denken, auch nicht an eine Diskussion.

Ich gehe in das Zimmer mit meinem Schreibtisch. Meine Konzentration ist hinüber. Ich schreibe halbherzig ein, zwei E-Mails. Dann rufe ich eine jüdische Kollegin an, um von dieser Situation zu erzählen , die ich als unglaublich empfinde. Doch die Kollegin geht nicht ran.

Ich schreibe der Kollegin eine Whatsapp. Nach einiger Zeit bekomme ich die Antwort, die jungen Menschen redeten häufig die Sache mit dem Genozid nach. Und weiter: „Da darf man sich nicht aufregen, sondern muss aufklären. Sie sind halt jung und unwissend.“

Kann man wirklich so jung und unwissend sein? frage ich mich. Teil 1 ist einfach. So jung kann man sein. Und so unwissend? Muss nicht jede Staatsbürgerin und jeder Staatsbürger wissen, was Antisemitismus ist und auch wissen, was israelbezogener Antisemitismus ist?

Ja, schön wäre es, aber wahrscheinlich weiß das nicht jede und jeder. Wahrscheinlich bin ich so vom Donner gerührt, weil das Thema Antisemitismus für mich ans Eingemachte geht.

Kann Studentin Jacqueline für ihre Unwissenheit? Die Frage bringt mich nicht wirklich weiter. Leute verdammen nützt nichts, speziell junge Leute verdammen nützt nichts. Die jüdische Kollegin hat recht: Ich muss aufklären.

Also gehe ich zu Jacqueline und frage in möglichst neutralem Ton, unter welcher E-Mail-Adresse ich sie erreiche. Ich sende ihr einen Wikipedia-Artikel über die Drei-D-Formel. Delegitimierung, Dämonisierung und doppelte Standards zeichnen den israelbezogenen Antisemitismus aus, besagt die Formel. Bei der Rede vom Genozid denke ich vor allem an „Dämonisierung“.

Bevor ich die Redaktion verlasse, unterhalten wir uns. Ich sage, dass ich ihr den Link nicht einfach unkommentiert schicken wollte. Jacqueline meint, sie wusste nicht, dass ich „jüdischen Glaubens“ bin. Offenbar hat Sachbearbeiterin Renate ihr das erzählt. Ich frage mich, ob die Rede vom Genozid in irgendeiner Weise besser wäre, wenn ich kein Jude wäre.

Ich sage: „Ein Genozid meint, eine ganze Volksgruppe auszulöschen oder es mindestens zu versuchen. Das sehe ich im Fall von Israel und Gaza nicht.“

Jacqueline fragt, ob ich sie jetzt für eine Antisemitin halte. Ich sage: „Nein“. Und dass es darum nicht geht. Dass auch mir diskriminierende Dinge in die Sprache rutschen können. Dass ich etwas sagen kann, was andere rassistisch oder sexistisch finden können.

Ich komme auf die israelischen Geiseln und Getöteten zu sprechen. Jacqueline sagt, dass ihr die natürlich auch leidtun. Ihr täten beide Seiten leid. Es könne nicht sein, dass die Palästinenser im Gazastreifen vor immer neuen Bomben fliehen müssten, immer wieder weglaufen müssten, dass kein Ort sicher sei.

Ich verzichte auf den Hinweis, dass die Hamas unter Krankenhäusern und Schulen Waffen und Kommandozentralen versteckt. Dann fragt mich Jacqueline, wie sie die Sache denn nennen solle statt Genozid. Ich sage: „Das kommt darauf an, was du meinst.“

Und ich füge hinzu, sie habe doch schon präzise gesagt, was sie kritikwürdig findet. Dann sagt sie, dass sie froh sei, dass wir gesprochen haben. Ich erwidere das.

Ich frage mich, ob ich in der Diskussion am Ende zu nachgiebig war. Ich weiß es nicht. Eine hakelige Diskussion, aber offenbar eine nötige.


3 Antworten

  1. faehrtensuche

    Ich hätte den Hinweis wichtig gefunden, über die Machenschaften der Hamas – einer Terrororganisation! – aufzuklären.
    Aber das könnte ja noch passieren, oder? Im Gespräch zu bleiben, ist immer gut.

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  2. Juna

    Du hast doch nicht gesagt, dass sie Antisemitin sei, sondern Du die Äußerung antisemitisch findest. Gut aber, dass Du die Kraft gefunden hast, da nochmal reinzugehen.

    Ich habe inzwischen aufgegeben. Heute nachdem die Nachricht über Kfir, Ariel und Shirin Bibas durchsickerten bin ich einfach nach Hause gegangen, es hätte eh niemand verstanden.

    (Du kannst mich auch anpinnen, wenn die Kollegin nicht rangeht)

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  3. anbeb5e3679de11

    Du beschreibst mit dieser Situati

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