Kurz vor Jom Kippur versuche ich vom Konto meiner verstorbenen Mutter zu überweisen. Während ich mit der Bank-Bürokratie kämpfe, frage ich mich: Verhält es sich mit Schuld und Sühne und Gottes Gericht ähnlich kompliziert wie mit der Nachlassabteilung einer Bank?
Eine Glosse von Gerald Beyrodt
Es war kurz vor dem jüdischen Versöhnungstag Jom Kippur. Da versuchte ich, vom Konto meiner Mutter zu überweisen. Zum Beispiel die Rechnung des Friedhofes für die Beerdigung meiner Mutter. Ein Thema von Jom Kippur ist, wer im nächsten Jahr leben und wer sterben wird. Ein Thema, mit dem ich diesmal nicht sonderlich viel anfangen konnte.
Jedenfalls wollte sich das Konto meiner Mutter einfach nicht öffnen. Ich habe alles möglich angestellt, Passwort zurückgesetzt, neues Passwort erstellt, es hat alles nichts genutzt, das Konto ließ sich nicht öffnen.
Bei der Bank sagte mir die nette Dame am Tresen, das sei immer so, wenn jemand gestorben sei. Dann werde das Konto erst mal gesperrt. Da ich aber eine Vollmacht hätte, könne ich bei ihr überweisen, sagte die Dame, nennen wir sie Frau Müller. Ich holte die Friedhofsrechnungen und andere offene Rechnungen aus meiner Wohnung und habe bei der Bank überwiesen. Ich habe mich gefreut und fuhr zur Arbeit.
In der Bahn habe ich über Jom Kippur nachgedacht. An Rosch ha-Schana fällt Gott über uns ein Urteil, das dann an Jom Kippur besiegelt wird, sagen die traditionellen jüdischen Schriften. Bis zum letzten Moment sind die Tore des Gerichts offen, heißt es. Man kann bereuen und noch umkehren.
Nach einigen Stunden, ich brütete gerade bei der Arbeit über irgendwas, rief Frau Müller von der Bank an. Die Fachabteilung, nämlich die Abteilung Nachlässe, habe meine Überweisungen nicht akzeptiert. In der Vollmacht gebe es einen Formfehler. Was für ein Formfehler das sei, sagte Frau Müller nicht.
Jetzt wurde ich etwas wütend. Zwölf Jahre hatte ich mit dieser Vollmacht die Bankgeschäfte meiner Mutter erledigt, und jetzt solle sie plötzlich nicht mehr gültig sein. Im übrigen hätten Bankangestellte in Hannover und Berlin diese Vollmacht abgenommen. Wenn es ein Formfehler sei, dann doch eindeutig ein Fehler der betreffenden Bank. Das sei alles sehr ärgerlich.
Frau Müller blieb höflich. Ja, das sei sehr ärgerlich,. Ob ich vielleicht einen Erbschein hätte. Ich habe Frau Müller gesagt, dass der Erbschein beantragt ist, dass die Ausstellung aber laut Amtsgericht sechs bis acht Wochen dauert. Ob noch eine andere Vollmacht hätte, wollte Frau Müller wissen. Sie könnte jetzt leider nicht weitersprechen. Vor ihr stünden Kunden. Aber ich solle mailen oder reinkommen.
Ich mailte und kam irgendwann rein. Und sagte zu Frau Müller, dass da doch irgendeine Vollmacht sei, die meine Mutter im Beisein des Arztes unterschreiben musste. Ich hatte den Arzt damals eigens für diese Vollmacht herbestellt.
„Vollmacht im Krankheitsfall“, aber die sei nicht hinterlegt. In diesem Moment habe ich bedauert, dass ich von der Vollmacht im Krankheitsfall keine Kopie gemacht habe. Dann habe ich mich gefragt, ob es bei Gottes Gericht ähnlich bürokratisch zugeht wie bei der Nachlass-Abteilung einer Bank und ob es kurz vor der Besieglung auch Formfehler geben kann. Und ich habe inständig gehofft, dass sich Gottes Gericht von der Bankenbürokratie unterscheidet.
Mittags habe ich versucht, die Nachlassabteilung der Bank zu erreichen. Frau Müller hatte zu einem Anruf am Freitag Mittag geraten, „wenn die Filialen zu sind“. Doch immer nur: besetzt, besetzt, besetzt.
Irgendwann habe ich die Sache aufgegeben und mir gedacht, dass ich von meinem Konto überweisen muss. Dann habe ich mich geduscht und für Jom Kippur umzogen. Am Abend war Kol Nidre, der Beginn des Versöhnungstages, und die Anfahrt mit diversen Straßenbahnen zur Synagoge würde lange dauern. Gerade knöpfte ich mein Hemd zu, da rief Frau Müller von der Bank an.
Es sei gut, dass ich auf die „Vollmacht im Krankheitsfalle“ hingewiesen habe. Mit dieser Vollmacht würden sich die Überweisungen machen lassen. „Wo sind Sie jetzt?“ fragte Frau Müller. Ich war zu Hause. Ob ich reinkommen könne. Und es sei auch gar nicht schlecht, wenn ich möglichst bald kommen könne, die Fachabteilung würde freitags um fünf schließen. Unbedingt solle ich meine Rechnungen mitbringen, denn die Überweisungen seien jetzt natürlich gelöscht.
Ich stürzte zur Bank, winkte durch die geschlossene Glastür, und tatsächlich, Frau Müller war freitags um kurz nach halb fünf noch da und machte mir auf. Sie musste alle Überweisungen erneut eingeben und bei der Fachabteilung anrufen.
Irgendwie war Frau Müller die Nervosität anzumerken. Aber tatsächlich hat sie die Fachabteilung erreicht, diese hat die Überweisungen bewilligt, und die Kollegin aus der Filiale hat die Überweisungen auch noch abgeklickt. Ich habe mich überschwänglich bei Frau Müller bedankt.
Zur Synagoge musste ich ein Taxi nehmen. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl: Die Türen des Gerichtes haben sich jetzt schon geschlossen.

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