Bothfeld

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Ein Besuch am Grab meiner Mutter. Und gleichzeitig eine Reise zu einem Kindheitsort. Ist Hannover-Bothfeld die Stelle, wo die Welt am provinziellsten ist? Nein, das wäre ungerecht. Viele Orte sind so.

Von Gerald Beyrodt

Die Haltestelle heißt „Stadtfriedhof Lahe“. Doch als ich ausgestiegen bin, frage ich mich, wie genau ich zum Laher Fridhof komme. Als erstes fällt der Blick auf das Hotel-Restaurant Föhrenhof, dort hat meine Mutter ihren 80. Geburtstag gefeiert. Dort haben wir nach ihrer Beerdigung vor einem Monat zusammengesessen.

Jetzt laufe ich kurz gerade aus, dann schräg über den Parkplatz zum Laher Friedhof. Auf dem Friedhof finde ich nirgendwo die Nummern wieder, die auf dem Plan stehen. Der Bestatter hat mir eine Skizze mit der Lage des Grabes gemailt. Das da hinten könnten die Werkstätten auf dem Plan sein, also laufe ich nach links, doch nach einiger Zeit sehe ich auf einem Metallschild einen Friedhofsplan, ich bin falsch.

Dann gehe ich den große Weg gerade aus, schlage bald einen Seitenweg ein, mal sehen, wie ich hin finde, denke ich noch, dann plötzlich bin ich da. „Dr. Ursula Beyrodt“ steht auf einem Holzschild. Noch ist der die Mischung aus Sand und Erde auf dem Grab erhaben. Der Sand wirkt nackt.Ich spreche das El male rachamim, es handelt von der Barmherzigkeit Gottes, in der meine Mutter jetzt aufgehoben sei, plötzlich muss ich heulen. Es ist der 30. Tag nach der Beerdigung.

Dann fahre ich vom Laher Friedhof zum Bothfelder Kirchweg. Es sind noch 40 Minuten Zeit bis zu einem verabredeten Kaffeetrinken. Ich laufe zum Haus meiner Eltern, das jetzt meinem Bruder und mir gehören wird. Es ist längst vermietet. Beim Weg über den Bothfelder Anger würde ich vermissen meine Mutter aus dem Fenster schauen zu sehen, hatte ich vermutet, und mich vor diesem Moment gefürchtet. Doch als ich die Wiese überquere, denke ich gar nicht daran.

Das Haus ist dunkelbraun getäfelt wie eh und je. Überhaupt sieht das meiste aus wie immer. Dass die Menschen sterben und die Häuser nicht einmal ergrauen. Ein Basketball-Korb steht auf dem Rasen. Hier spielen Jugendliche. Ich kehre um, gehe zurück über die Wiese, ein kleiner Hund kommt auf mich zu. Ich begreife nicht. Die Besitzerin sagt: „Sie möchte, dass Sie den Ball werfen.“ Das tue ich. Und denke darüber nach, wo ich mir die Hände waschen kann, nachdem ich einen Ball aus einer Hündinnenschnauze genommen habe.

Bothfeld: hier stehen ein paar alte Bauernhäuser und daneben viele neue Häuser, die auf Bauernhaus machen mit ihren roten Klinkern. Bothfeld: Realität gewordener Traum und Eigenheimidylle mit handtuchgroßen Vorgärten. Ich will denken: In Bothfeld ist die Welt am provinziellsten. Doch das wäre ungerecht. Ich bin 56, da sollte man aus ist der Pubertät raus sein.

Deutschland ist an vielen Stellen so wie Hannover-Bothfeld, und wer bin ich, Menschen die hier leben, des Spießertums zu bezichtigen.

Doch ich frage mich, was meine Mutter hier gesucht hat. Vielleicht gerade das: eine Idylle nahe der Stadt für ihre Familie. Vielleicht ist der Drang nach Idylle besonders groß, wenn man erlebt hat, was meine Mutter erlebt hat.

Dann ein Kaffeetrinken in der Nikolaikirche: Ich treffe ehemalige Konfirmanden-Gruppenleiterinnen und -leiter. Lange bevor ich zum Judemtum fand, zur Religion meiner Mutter, habe ich sowas gemacht.

Symbol meiner Anpassung, meiner Eingepasstheit, und doch ein Teil guter Jugend, in dem ich mich wohl gefühlt habe. Meine Mutter meinte, dass das Judentum in Deutschland keine Zukunft habe. Damals als es noch keine Zuwanderer aus der Ex-Sowjetunion in den Gemeinden gab.

Um ihre Religion gekümmert hat sie sich erst wieder, als sich in ihrer Stadt eine liberale Gemeinde gründete. Eine Gemeinde, in der sie die selben Rechte und Pflichten hatte wie die Männer. Nach und nach habe auch ich mich ins Judentum hineingelebt. Meine Möglichkeit, die familiären Narben in etwas Positives zu verwandeln.

Jetzt also sitze ich hier in Bothfeld, nahe dem Kirchturm, von dem ich in der Grundschule gelernt habe, dass er aus „Raseneisenstein“ ist, sehe zu, wie andere Herrschaften meines Jahrgangs halbe Kuchenstücke essen wegen der Kalorien oder gleich ganz verzichten.

Ich höre Geschichten von ganzen Biographien in Hannover. Ich gehöre hier nicht hin, und doch habe ich Heimweh nach Hannover. Ich bin so Bothfeld, so Konfirmandengruppenleiter, so deutsch, so jüdisch, so provinziell. so spießig, so weltoffen, so feinfühlig. So.


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