Danach

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Betrachtungen nach dem Tod meiner Mutter. Von Gerald Beyrodt

Nach dem Tod meiner Mutter kann ich irgendwann an eine Zeit ohne Antragformulare denken. Irgendwann, jetzt noch nicht. Nach acht Jahren Pflegedürftigkeit geht eine Zeit des bangen Fragens zuende.

Möglicherweise wird mir ein Stein vom Herzen fallen irgendwann. Jetzt, wo meine Mutter gestorben ist, kann ich an eine Zeit ohne Antragsformulare denken, ohne Chaos zwischen der Einrichtung, die ohne mich zu fragen, irgendein Hilfsmittel bestellt, der Beihilfe, der privaten Kasse, dem Arzt und mir. Anträge über Anträge.

Immer wieder die Frage, ob das neue Hilfsmittel meiner Mutter überhaupt nützt. Immer wieder die Frage, ob sie gut untergebracht ist. Immer wieder die Begrenztheit der Ressourcen, der Zeit der Kräfte.

Meine Mutter war auf einer Körperhälfte gelähmt durch einen Schlaganfall. Sie konnte kaum sehen. Mit dem Hören war es auch nicht dolle. Sie war auf die Hilfe anderer angewiesen.

Meine Mutter hat die geistige Anregung geliebt. Aber ein Buch konnte sie nicht mehr lesen. Eine Vorleserin, einen Vorleser gab es nicht. Vielleicht hätte ich das organisieren können. Nur: Es war so viel zu organisieren. Irgendwann hat man es nicht mehr geschafft.

Mein Bruder war viel bei ihr, er war am Ort. Ich wäre gerne öfter bei ihr gewesen, statt so, so viele Antragsformulare auszufüllen. Immer wieder das Gefühl des eigenen Ungenügens. Das Gefühl, ihr kein gutes Leben bieten zu können. Dass es neben dem Beruf eine Grenze des Schaffbaren gibt.

Immer wieder auch die Frage, ob sie gut versorgt wird. Noch eine Woche vor ihrem Tod musste sie ins Krankenhaus, weil sie einen Bruch am Sprunggelenk hatte. Meine Mutter, die alleine gar nicht mehr aufstehen konnte. Ein Pfleger oder eine Pflegerin hat sie fallen gelassen, als er oder sie sie aus dem Bett geholt hat.

Als ich eine Woche später von meiner toten Mutter Abschied nahm, habe ich den Verband noch gesehen.

Acht Jahre war meine Mutter pflegedürftig. Sie konnte kein Buch mehr lesen, keinen Fernseher anstellen, schon gar kein Hörbuch anstellen. Immer wieder habe ich mich gefragt, wie sehr ihr die mangelnde Anregung schadet. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass dieser Zustand ohne Anregung wirklich so sein muss. Warum wird niemand für Gespräche oder Vorlesen abgestellt in einer Einrichtung, die kein Heim sein will? Mein Bruder und ich konnten kaum täglich in das abgelegene Heim kommen. Zumal ich hunderte vonKilometern entfernt wohne.

Die acht Jahre Pflegebedürftigkeit meiner Mutter haben mich sensibler gemacht für die menschliche Verwundbarkeit. Mein Vertrauen, dass du schon auffangen wirst, es ist arg angekratzt.

Oft habe ich in den acht Jahren angefangen Texte über meine Mutter zu schreiben. Ich habe anfangen darüber zu schreiben, wie ich mit ihr jüdische Lieder gesungen habe. Maos Zur, auch wenn nicht Chanukka war. Zuletzt immer wieder „Echad mi yodea“- Wer weiß, was eins ist? Eins Gott, zwei sind die Gesetzestafeln drei die Patriarchen, vier die Erzmütter. Meine Mutter mochte es abgefragt zu werden.

In den acht Jahren bleiben die Texte über meine pflegebedürftige Mutter fast immer Fragment. Es schmerzte über ihre Zerbrechlichkeit zu schreiben. Auch wenn ich mich bemühte, über die Kraft jüdischer Lieder, die man in der Kindheit gelernt hat, zu schreiben, meist schienen mir die Texte vor allem von der Hinfälligkeit meiner Mutter zu handeln. Hinzu kam: Wenn ich etwa für den Gemeindebrief meiner jüdischen liberalen Gemeinde schrieb, kam es mir schamlos vor, zu viel vom Zustand meiner Mutter zu schreiben. Jetzt kann ich das.

Vorerst gibt es noch genug Bürokratie. Die Versorgungskasse will zu viel überwiesene Pension zurück. Die Bank, die noch nicht weiß, dass meine Mutter tot ist, bittet sie um Zustimmung, ich unterschreibe als Bevollmächtigter.

Einen Termin beim Nachlassgericht habe ich erst in zwei Wochen. Aber ich habe herausbekommen: Ich kann in meiner Stadt einen Erbschein beantragen und muss dies nicht tun, wo meine Mutter gestorben ist.

Irgendwann werde ich nicht mehr mit der Bürokratie zu tun haben. Kaum vorstellbar. Aber bis dahin ist es noch ein langer Weg.


Eine Antwort

  1. Kristina

    lieber Gerald, Deinen Blog habe ich diesmal besonders intensiv gelesen. Nicht nur , weil Du Dich noch so viel mit den letzten Lebensjahren Deiner Mutter iinnerlich auseinandersetzt, sondern weil ich ja gerade 80 wurde und ich mich gut erinnere, wie fit Deine Mutter auch noch bis zu ihrem Schlaganfall war.
    was mir aber besonders im Nachhinein zu denken gibt, dass niemals in unserer Gemeinde danach gefragt oder angeregt wurde, deine Mutter zu besuchen oder gar ihr vorzulesen! Ich habe 12 Jahre ehrenamtlich in der jüdischen Bibliothek gearbeitet und hätte das übernommen, zumal das Eilenriedestift von meinem Wohnort nicht weit entfernt liegt.
    was lernt man wieder einmal: noch mehr kommunizieren, wenn es notwendig wird, sich nicht scheuen, sich melden, evtl sogar etwas energischer! Ich kann für deine Mutter leider nichts mehr tun, aber meine Familie schon mal darauf vorbereiten, es anders zu handhaben.

    alle guten Wünsche für Dich und Shana Tova aus Hannover von Kristina Ruth Geyer

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