Die jüdischen Trauerrituale geben mir Halt. Wichtig für mich: sie mit bekannten und befreundeten Menschen zu begehen. Der Schmerz bleibt.
Von Gerald Beyrodt
Meine Mutter ist von Menschen unter die Erde gebracht worden, die sie kannten. Aus der liberalen jüdischen Gemeinde in Hannover hat eine Dame gesprochen, die mit Ursula bestimmt 20 Jahre Gemeindeleben verbracht hat. Ich wollte, dass jemand Bekanntes die Trauerrede hält. Nicht der recht neue Rabbiner, der bestimmt nett ist. Der sie aber nie kennen gelernt hat.
Die Chevra Kadischa, wörtlich die Heilige Gesellschaft, die meine Mutter gewaschen hat, den Körper meiner Mutter gewaschen hat, besteht aus Mitgliedern der Gemeinde – im Fall von verstorbenen Frauen nehmen Frauen die Waschung vor. Dass Ursula diese Waschung bekommen hat, bedeutet mir etwas.
Ich darf bei der Beerdigung sprechen und darf erzählen, wie traurig ich bin. Immer wieder kippt mir die Stimme, immer mal wieder muss ich lange Pausen machen, weil sich Tränen ankündigen und wieder gehen, aber sprechen kann ich.
Eine von den Frauen aus der Chevra Kaddisch ist hinterher mit ins Restaurant gekommen. Sie sei kurzfristig gefragt worden, ob sie mitmacht, jetzt im Sommer seien wenig Leute da. Dann sei sie gleich ins kalte Wasser gesprungen. Mein Hirn sendet unpassende Kalauer zwischen „kaltem Wasser“ und Totenwaschung aus. Ich schiebe die Kalauer beiseite. „Ich hoffe, es ging“, sage ich. Die Dame nickt. Mehr will ich über die Waschung meiner Mutter nicht wissen.
Diese Beerdigung ist ein kleines bisschen wie ein Treffen mit Freunden. Allerdings furchtbar traurig. Meine Mutter ist tot.
Tags drauf bin ich wieder in Köln, dort lebe ich. Das Bild ist ähnlich. Beim Freitagsabendgottesdienst nehmen mich viele in den Arm.
Mir war es wichtig, dort Kaddisch sprechen zu können, und dazu braucht man zehn erwachsene Jüdinnen und Juden. Im Vorfeld hat es Telefonate und Whatsapp-Nachrichten gegeben, die Leute sollten heute bitte in die Synagoge kommen.
Jetzt ist die Synagoge so voll wie freitags selten Das freut mich. Das hält mich. Irgendwie gut, mit diesen Menschen und mit diesen Ritualen meinen Kummer zu teilen.
Ich habe noch überlegt, wie ich es mit der Schiwe halte, mit der Trauerzeit von einer Woche nach der Beerdigung. Ich habe dann von Sonntag bis Mittwoch jeden Abend ein Online-Kaddisch gesprochen, mit Mitgliedern aus meiner Gemeinde. An einem Abend haben Menschen, die sie kannten, von meiner Mutter erzählt. Ich auch.
Man merkt liberalen jüdischen Gemeinden an, dass sie selbstgemacht sind. Keine Gemeindeverwaltung, keine Behörde, viel Diskussion, gerne auch Chaos. Liberale jüdische Gemeinden sind ein bisschen wie Bürgerinitiativen. Das macht mir die Zeit der Trauer familiär.
Es ist gut, dass wir in solchen Gemeinden unsere Leben miteinander teilen, dass unsere Kranken und Verstorbenen im gemeinsamen Gebet vorkommen. Oft nennen wir die Namen.
Die Rituale, sie helfen und halten. Und trotzdem: Die Trauer tut verdammt weh.

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