Gemeinschaften können nerven. Weil immer irgendwer irgendwen nicht abkann. Doch was wären wir ohne sie?
Von Gerald Beyrodt
In der Theorie ist sie eine tolle Sache, die Gemeinschaft. Weil sich alle so gut verstehen. Weil man zu mehreren ist. Weil man sich aufgehoben fühlt und nicht alleine ist. Kurzum – eine Gemeinschaft ist eine tolle Sache, weil eine Gemeinschaft so gemeinschaftlich ist.
Ein Minjan ist eine Gemeinschaft. Und damit kommen wir zur Praxis.
Ein Minjan fällt vor allem dann auf, wenn er nicht zustande kommt. Weil Aviva fehlt und Heike nicht konnte, und aus irgendwelchen Gründen auch Chajm nicht da ist. Die drei sind fest überzeugt, dass sie heute wirklich überzeugende Gründe haben, nicht in der Synagoge zu sein.
Leider sehen das diejenigen, die den Weg in die Walachei-Synagoge gemacht haben, die sich hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen befindet, wohin es übrigens nur oberblöde KVB-Verbindungen gibt, nicht ganz so. Die finden, dass Aviva nun wirklich mal hätte den Hintern hochkriegen können, und wo Chajm die letzten Wochen bleibt, man versteht es einfach nicht, und Heike ist sowieso ein Kapitel für sich.
Tja, und dann müssen sich diejenigen, die ohne Minjan sind, beim dürftig ausfallenden Kiddusch das Maul zerreißen, was sie zuletzt wieder mit Heike, Chajm und Aviva erlebt haben: die Eheprobleme von Aviva, die völlig verzogenen Kindern von Heike, und der total verbrannte Apfelkuchen, den Chajm neulich allen Ernstes zum Kiddusch mitgebracht hat.
Dummerweise beruht Judentum zu weiten Teilen auf der Idee des Minjan. Zentrale Texte können wir nur sprechen, wenn genug Leute da sind, ob es nun zehn Juden sind (Babylonischer Talmud) oder ob man aus der Not die Zahl auf sieben herabsetzt (Jerusalemer Talmud).
Judentum beruht auf der Idee des Minjan. In der Theorie,weil Gemeinschaften so stark sind. In der Praxis: Obwohl in einer Gemeinschaft immer Maier Müller nicht abkann, aber das noch gar nichts ist gegen die innige Feindschaft, die Levi und Steinitz miteinander verbindet. Obwohl sich in einer Gemeinschaft immer irgend jemand aufregt, dass der Vorstand keine E-Mails beantwortet, die Satzung missachtet wurde und dass die Farbe des Toravorhanges nun gar nicht geht.
Es sind nicht irgendwelche Texte, die einen Minjan erfordern. Es sind ganz besonders heilige Teile des Gottesdienstes: die Toralesung, das Schema, das Barechu. Heiligkeit findet sich im Judentum in der Gemeinschaft. Wenn es gruppendynamisch knirscht und quietscht, schleift und schlingert, ist das Teil der Heiligkeit. Eine tolle Idee, eine skandalöse Idee, die uns zusammenbringt und aneinanderschweißt trotz allem.
Eine so skandalöse Idee, dass dahinter jeder Synagogentratsch erblassen muss.

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