Von Gerald Beyrodt
Ich sitze bei meiner Ärztin, die erst seit kurzem meine Ärztin ist. Wir haben früher mal zusammen studiert. Nein, nicht Medizin. Ich eigne mich nicht.
Ich würde das Stethoskop vermutlich an der Fußsohle ansetzen oder so, wenn ich den Fuß des Patienten finde. Nein, Literaturwissenschaft. Meine jetzt neue Ärztin hat damals immer kluge Sachen zu Gedichten von Bachmann und anderen gesagt.
Sie war mal alles. Sie war mal Radiomoderatorin, später Fernsehdramaturgin, hat dann ein Medizinstudium drauf studiert. So viele Berufe in einem Leben. Jemand, die sich offenbar immer verändert hat, wenn sie fand, dass es dran war. So stelle ich mir das vor.
Ich sitze bei meiner neuen Ärztin, sie findet, ich sähe noch so aus wie mit 25 Jahren. Es ist irgendwie nicht mein Tag, unter anderem deshalb bin ich bei der Ärztin. Ich denke an die Geschichte von Bertold Brecht, in der Herr Keuner gesagt bekommt, dass er sich nicht verändert habe. Und in der Herr Keuner erbleicht.
Ich versuche meinen Fokus zu finden. So wie bei Brecht ist die Aussage sicher nicht gemeint, dass ich noch genauso aussehe. Im Gegenteil, es ist sicher nett gemeint. Ich sage, dass auch sie so aussieht wie früher. Ich will gar nicht schmeicheln, ich meine das so. Meine Ärztin fragt zurück, ob ich sie denn auf der Straße erkannt hätte. Plötzlich ist mein Fokus wieder weg, und ich weiß es nicht. „Jetzt bist Du dir nicht mehr sicher“, sagt meine Ärztin. Ich denke: Worüber im Leben bin ich mir schon sicher.
Wir reden über Falten und graue Haare. Meine Ärztin kalauert, vielleicht hätte ich im Studium auch schon ausgesehen wie mit 50. Ich denke mir, dass das sicher aufgefallen wäre an der Uni.
Später hänge ich an einer Infusionsstrippe. Meine Ärztin sagt: „Du schreibst doch darüber.“ Ich frage: „Worüber schreibe ich?“ Darauf meine Ärztin: „Na, über die Situation, über unser Zusammentreffen.“ Meine Ärztin liest immer meinen Blog.
Ich habe in dem Moment keine Ahnung, ob ich darüber schreiben werde. Ich habe mir noch keinerlei Gedanken gemacht darüber. Manchmal weiß ich das erst später. Jetzt habe ich es doch getan.

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