Von Gerald Beyrodt
Es war bei einem Workshop über das jüdische Totengebet Kaddisch, das noch so viel mehr ist als ein Totengebet. Eine Dame erzählt von einer Beerdigung, wohl von der Beerdigung ihres Mannes. Sie spricht von alten Männern in abgerissener Kleidung, die Geld gekostet hätten und dann noch mal die Hand aufgehalten hätten.
Einen Moment lang stehe ich auf der Leitung. Was für Männer? Was für Handaufhalten? Ich bewege mich vor allem in liberalen oder konservativen jüdischen Zusammenhängen. Jetzt fühle ich mich auf einen anderen jüdischen Planeten versetzt. Ich frage nach: „Verstehe ich richtig, ihr habt tatsächlich Minjan- Männer in der Gemeinde?“
Und ja, natürlich, es geht um Minjan-Männer. Im Judentum können zentrale jüdische Gebete nur gesprochen werden, wenn zehn erwachsene jüdische Männer anwesend sind, im liberalen Judentum zehn Männer oder Frauen. Dieses Quorum nennt sich Minjan.
Und deshalb werden in orthodoxen Gemeinden oft Minjan-Männer bezahlt. Zu den zentralen jüdischen Texten gehört auch das Kaddisch. Ich habe mir nie klar gemacht, wie essentiell solche Männer für eine orthodoxe Beerdigung sind. Ohne Zehnzahl von jüdischen Männern kein Kaddisch. Und eine Beerdigung ohne Kaddisch – undenkbar.
Liberale Rabbiner würden schon mal auf die Zehnzahl verzichten, damit Trauernde das Kaddisch sprechen können. Denn das Kaddisch steckt Jüdinnen und Juden in den Knochen.
Jemand aus der Runde wirft ein, dass, gerade wenn alte Menschen versterben, der Bekanntenkreis oft dezimiert ist und kein Minjan zusammenkommt.
Wenn Frauen nicht zählen, kommt ein Minjan nicht so leicht zusammen. Ich überlege: Spricht aus den Worten der Dame auch die Kränkung nicht zu zählen?
Ich frage, wie viel denn Minjan-Männer kosten. Großes Gelächter in der Runde. Jemand will wissen, ob ich den Beruf wechseln möchte. Ich feixe zurück, dass ich kein Interesse habe, in abgerissenen Klamotten rumzulaufen.
Die angesprochene Dame wirkt peinlich berührt von meiner Frage, jedenfalls kommt es mir so vor. Sie überwindet die Peinlichkeit und sagt pro Minjan-Mann 20 Euro. Die würden beim Rabbinat vor der Beerdigung bestellt. Und dann hätten sie noch mal bei der Beerdigung die Hand aufgehalten.
Ich stelle mir vor, wie unangenehm das ist im Moment tiefster Trauer, wenn man als Witwe wirklich trostbedürftig ist, um Geld angehauen zu werden. Ich selbst habe nie bewusst Minjan-Männer erlebt.
Andere Kränkungserfahrungen bei Beerdigungen machen die Runde. Eine Trauernder in der selben Gemeinde sei empört gewesen, als in der Coronazeit ein Bagger das Grab zugeschaufelt hat. Virusübertragungen über die Schaufel sollen vermieden werden.
Diese Coronazeit ist schon wieder so lange her, denke ich, diese Hygienevorschriften kommen mir schon wieder vor wie aus einer anderen Welt.Jedenfalls hat der Trauernde „Bullshit“ gerufen. Darauf seien Rabbiner und Kantor schweigend weggegangen.
Ich selber steuere auch eine Kränkungserfahrung bei. Vor dem Todestag meines Vaters durfte ich mal nicht das Kaddisch vorbeten. Kaddisch, das mache man bei uns in der liberalen Gemeinde gemeinsam, wurde ich beschieden. Ich hatte mich umsonst eine Stunde lang vorbereitet.
Es viel mir auf: So viel Ärger und Verletztheit bei diesem Trauergebet, in dem nichts von Trauer steht und das Gott lobt. Vielleicht sind unsere Seelen besonders wund, wenn wir trauern.

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