Lange Leitung

Avatar von jakob68

Gibt es eigentlich noch 0190er-Telefonnummern? Da war früher mal die Nummer-Nummer, die Nummer zur extrem kostenpflichtigen Sex-Hotline. Dafür warben im Privatfernsehen vornehmlich Damen, die den Tick hatten, sich dauernd mit der Zunge über die Lippen zu fahren. Warum, weiß ich nicht. Als es jedenfalls noch 0190er-Nummern gab, habe ich mir eine Hotline ausgedacht für alle, die Fragen zum Judentum haben. Eine Glosse aus dem Jahr 2012.

Es war bei einem Kaffeetrinken am Sonntag Nachmittag. Wir überlegten uns, dass Judenklischees endlich mal auf uns zutreffen könnten. Zum Beispiel das Klischee, dass alle Juden viel Geld haben.

Keiner an unserer Kaffeetafel hätte etwas dagegen gehabt, wenn das wahr wäre, denn unser aller Kontostand sah überhaupt nicht klischeeverdächtig aus.

Und dann hatten wir eine Geschäftsidee, die uns reich machen sollte. „Wir machen eine 0190er-Nummer“, lautete der Plan. Deborah wusste auch schon, wie die Fernsehwerbung gehen sollte. „Ruf jetzt an“, stöhnte sie uns vor und benetzte die Lippen. „Hier triffst du attraktive Juden aus deiner Umgebung.“

Doch Aviva hatte gerade eins dieser Existenzgründungsseminare belegt und blieb trotz unserer Begeisterung sachlich. Ein Produkt müsse immer auf die Erwartungen der Zielgruppe abgestimmt sein, belehrte sie uns. „In den Augen der Zielgruppe leben Juden nicht in der Umgebung. Juden sind immer tot und rufen Schuldgefühle hervor.“

Das machte uns ratlos. Erstens war keiner von uns tot und zweitens lebten wir doch alle in irgendeiner Umgebung. Doch uns war klar: Nur wer die Erwartungen der Zielgruppe erfüllt, kann ein Geschäft machen. Und von den Erwartungen der Zielgruppe wusste jeder von uns zu berichten.

Aviva war von der Ärztin gefragt worden, ob sie reinrassig jüdisch sei. Aviva hatte dann zurückgefragt, was sich die Ärztin darunter vorstelle. Die Antwort: dass beide Eltern jüdisch seien. „Und konnte sie dich von deiner reinrassigen Jüdischkeit heilen?“ wollten wir wissen. Nein, konnte sie nicht.

Dummerweise konnte Aviva wegen ihrer Grippe keine Aufklärungsarbeit leisten, konnte der Ärztin nicht sagen, dass Judentum keine Rasse ist und dass das Wort Rasse seit 1945 nicht mehr ganz so hip ist wie zuvor. Dafür wollte die Ärztin über den Nahost-Konflikt diskutieren.

„Das wollen sie alle“, sagten alle an unserer Kaffeetafel wie aus einem Mund. Peter ergänzte: „Und dann wollen sie immer wissen, ob man dieses und jenes sagen kann. Manche fragen, ob man denn Israel kritisieren kann. Also, ich weiß selber, was ich kritisieren kann und was nicht.“

Das Schlimmste ist, wie wir fanden: Häufig sind die Fragen, die für uns dreist klingen, nett gemeint. Viele haben ehrliches Interesse, fragen aber, als ob sie sich bislang nur aus dem „Stürmer“ informiert hätten. Es ist wirklich schwer, freundlich zu erklären, dass Judentum vieles ist, aber bestimmt keine Rasse. Doch jetzt wollten wir unsere jahrelang eingeübte Kompetenz im freundlichen Richtigstellen geschäftsfördernd einsetzen.

Wir wollten eine 0190er Nummer mit drei Tarifen. Basistarif – für alle, die mal eine Frage haben. Die wissen wollen, was eine Kippa ist, warum wir nicht an Jesus glauben, ob wir uns für das auserwählte Volk halten, denen man mal sagen muss, dass man jüdisch sein kann, ohne religiös zu sein, dass wir seit zweitausend Jahren keinen Tempel haben etcetera.

Mittlerer Tarif für Menschen, die mit uns über den Nahost-Konflikt diskutieren wollen. Und höchster Tarif: Vergebung von Schuldgefühlen.Wir waren uns zwar einig, dass Katholiken mit Beichte und Absolution mehr Übung haben als wir.
Doch wir wollten ja unsere Geschäftsidee vorantreiben. Und Aviva wusste aus ihrem Ratgeberbuch „Existenzgründung in der Tiefschlafphase“, dass man sich durchaus auch mal „Geschäftsstrategien des Wettbewerbers“ zu eigen machen dürfe, wie es hieß. Wir arbeiten daran.


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