Was macht eigentlich das Heilige so? Ist es passé, hinüber, verdunstet? Ganz im Gegenteil, finde ich. Es feiert fröhliche Urständ. In Behörden genauso wie in kleinen oder großen Unternehmen. Denn das Heilige ist das, was man nicht anfasst, nicht berührt, wovor man in Ehrfurcht erstarrt. Und solcherlei Erstarrung gibt es im Arbeitsalltag genug.
Von Gerald Beyrodt
Hierarchie heißt heilige Herrschaft. Jedenfalls wenn man sich auf die wörtliche Bedeutung verlässt, denn es kommt von Griechisch hierós, heilig. Aber Porzellan kommt auch von porcellino, Schweinchen, und hat doch mit Schweinen wenig zu tun.
Die Hierarchie ist heilig
Leider hat die Hierarchie sehr viel mit Heiligkeit zu tun, auch heute. In mittelständischen Unternehmen genauso wie in DAX-notierten, in Behörden sowieso. Da sagt die Chefsekretärin: „Dieses Formular sieht auch der Direktor.“ Und sie fordert die Mitarbeiterin auf, das Formular noch einmal neu auszufüllen, denn Durchstreichen geht nun gar nicht bei Formularen, die der Direktor sieht.
Ehrfurcht vor der Direktorin
Das Heilige verlangt Ehrfurcht, und die Hierarchie tut es auch. Ob der Direktor wirklich auf lupenrein ausgefüllte Formulare besteht, ist gar nicht gesagt. Muss es auch nicht. Vielleicht ist es auch eine Direktorin.
Hierarchie besteht darin, dass alle denken, sie müssten Ehrfurcht zeigen. Das Heilige ist das, was man nicht berührt. Ein heiliger Ort ist der, wo man keine Fragen stellt, wo man nur noch in Ehrfurcht versinken kann.
Mit der Ernsthaftigkeit einer Priesterin
Nun könnte man jede Menge einwenden. Dass wir doch nicht in einem Gottesstaat leben. Dass es in einer Demokratie keine heilige Ehrfurcht geben kann. Dass Organisationen und Unternehmen von Menschen gemacht werden und dass Hierarchen mithin keine Heiligen sein können. Stimmt alles irgendwie. Das weiß aber die Chefsekretärin nicht. Sie besteht mit der Ernsthaftigkeit einer Priesterin auf Neu-Ausfüllen des Formulars.
Echter Name unbekannt
Daran zeigt sich: dass es auch heute heilige Ehrfurcht geben kann, und dass unsere Welt weniger demokratisch und weniger liberal und weniger egalitär ist, als wir meinen. Übrigens habe ich gelesen, dass das Wort Hierarchie von einem Kirchenvater des 6. Jahrhunderts stammen soll, von Pseudo-Dionysios Pagita. So der Deckname, echter Name unbekannt. Ich finde es sehr plausibel, dass der Erfinder des Hierarchie-Begriffs einen Namen trägt, der mit Pseudo anfängt.
Übrigens hat der Dionysios auch eine Engelslehre entwickelt, und bei der spielte wenig überraschend der Hierarchie-Gedanke eine große Rolle. Aber meinte Pseudo-Dionysios wirklich die Engel im Himmel? Beobachtungen aus mittelständischen und auch aus DAX-notierten Unternehmen genauso wie aus Behörden zeigen: Wo man Hierarchen für Heilige hält, da ist die Hölle.

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