Gute Laune kann toxisch sein. Habe ich von einer Amerikanerin gelernt. Bei einem Talmudkurs vor zwei Jahren in Jerusalem. Eine Glosse.
Von Gerald Beyrodt (geschrieben 2022)
Wir saßen in unserer Lerngruppe zum Talmud und brüteten über einer Passage über dass Sich-Freuen. Man solle sich freuen, stand da ungefähr, aber nicht zu sehr. Vielleicht war das auch anders zu verstehen, das wollten wir gerade ermitteln.
Warum man sich nicht zu sehr freuen sollte, war uns allen nicht ganz klar. Da kam Ziva aus Neu Mexiko mit einem Stichwort um die Ecke: „toxic positivity“. Toxische Positivität oder giftiges Gut-Draufsein.
Ich habe kurz nachgefragt, was das sein soll, toxische Positivität. „Das bedeutet: Wir haben tolle Laune, komme, was da wolle“, sagte Ziva. „Von Problemen wollen wir nichts wissen. Wir lächeln alles weg.“ Toxische Positivität sei Teil der amerikanischen Kultur. Sofort hatte ich ein Bild vor Augen: von Mündern, die breit lächeln und makellose Gebisse entblößen. Ich musste an den Beginn unseres Kurses in Jerusalem denken, an unsere Vorstellungsrunden. Über hundert jüdische Amerikanerinnen und Amerikaner und dazwischen ich. Wie oft habe ich gehört, diese und jene Person sei amazing, ganz wunderbar. Wörtlich erstaunlich. Mich hat das wirklich erstaunt. Und ich habe mich gefragt: Wie mache ich hier richtig Small Talk? Schon wieder eine Frage mit Für und Wider, pro und contra, viel zu vielen Differenzierungen beantwortet, statt einfach zu sagen, es war „amazing“.
Im Verlauf des Kurses habe ich dann weniger „amazing“ gehört. Vielleicht meinen Amerikaner nur solange so schrecklich gut drauf sein zu müssen, bis sie sich gegenseitig besser kennen. Ich war – wie gesagt erstaunt, als Ziva mit der toxischen Positivität kam. Ich habe gelernt: Auch Amerikanerinnen können dauerndes Gutdraufsein nervend finden.
Solche Positivität gibt es auch in Deutschland. Je mehr wir uns selbst verkaufen, desto mehr Gut-Draufsein um jeden Preis. Ich erwische mich auch dabei, wie ich „ja, wunderbar“ sage, wenn ich eine Sache halbwegs o.k. finde.
In Deutschland haben wir nicht nur toxische Positivität. Wir kennen auch menschenverbindendes Rumnölen.
Über den Arbeitsplatz, den Chef, die Bürokratie, das Leben, das Wetter, die KVB. An manchen Tagen bin ich auch gut darin. Nölen ist das Om der Deutschen. Wer sich beklagt, bringt zum Ausdruck: Ich bin am Leben, ich atme, es geht mir gut. Vielleicht sollte ich Amerikanern Rumnöl-Seminare anbieten. Um ihre Positivität zu entgiften. Ich weiß schon den Slogan: „Detox your positivity“.
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