Theodor W. Adorno hat gesagt, „nach Auschwitz“ noch ein Gedicht zu schreiben sei „barbarisch“. Letzten Samstag war Holocaust-Gedenktag und Schabbat Schira, Lyrik-Schabbat. Und ich war im Dilemma. Ein Essay.
Von Gerald Beyrodt
Letzten Samstag habe ich an Theodor W. Adorno gedacht. Das passiert mir sonst selten. Ich habe an seinen Satz gedacht: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch.“ Letzten Samstag war internationaler Holocaust-Gedenktag, von der UNO ausgerufen. Und letzten Samstag war Samstag- mithin Schabbat. Das bedeutet: Es war ein Tag, an dem sich Jüdinnen und Juden freuen sollen. Schon das fand ich schwierig am Holocaustgedenktag. In Israel gab es das Problem an diesem Tag wohl nicht, den der israelische und jüdische Gedenktag Jom haSchoa liegt auf einem anderen Datum . Schon blöd, wenn Du eingequetscht bist zwischen zwei Kalendern. Wenn Du nicht weißt, ob Du trauern oder Dich freuen sollst und notdürftig versuchst, beides zu verbinden. Noch dazu war Schabbat Schira – Gesangsschabbat oder auch: Lyrik-Schabbat. Lyrik war ja bei den alten Griechen das, was man zur Klampfe gesungen hat, zur Lyra.
Ich hatte es am Schabbat Schira gleich mit zwei Gedichten oder Liedern zu tun. Bei der Lesung aus den Fünf Büchern Mose, der Tora, und bei der Propheten-Lesung, der Haftara. Ich gehe in eine liberale Synagoge und habe bei beiden Texten die Übersetzung vorgelesen. Moses, Miriam und das Volk haben knapp überlebt, weil Gott das Meer geteilt hat, die Ägypter sind ihnen nicht mehr auf den Fersen, denn sie sind ertrunken. Und was tun Moses, Miriam und das Volk? Sie singen. Und in der Propheten-Lesung aus dem Richterbuch wird gleich noch mal gesungen. Lyrik, so weit das Auge blickt. Das hebräische Wort „schira“ bedeutet Dichtung, Gedicht, Gesang.
Ich fühlte mich nicht nur zwischen zwei Kalendern eingequetscht, sondern zwischen Schabbat Schira und Adorno-Verdikt. Da ist mir der (etwas sarkastische) Gedanke durch den Kopf geschossen: Wie konnte es die Tora wagen, ein Verbot zu übertreten, das Theodor W. Adorno erlassen hat? Der Mann war immerhin Professor in Frankfurt. So weit haben es Abraham, Isaak und Jakob nicht gebracht .
Und dann schließlich habe ich an Adornos Lebensgeschichte gedacht: Er ist verfolgt worden, sein Leben war bedroht, er musste Deutschland verlassen, hat in den USA gelehrt, offenbar recht komfortabel, konnte nach der Schoa zurückkehren, war in seiner Geburtsstadt Frankfurt am Main Professor, wiederum komfortabel. Adorno war ein Überlebender. Und ich habe mir vorgestellt: er war ein gezeichneter, traumatisierter Mensch. Nächster Gedanke: Wenn ein Überlebender das sagt, dann muss man den Satz von der Barbarei des Gedichteschreibens unbedingt ernst nehmen. Die Frage ist allerdings: Was heißt ernst nehmen? Strenggenommen hat der jüdische Gottesdienst natürlich überhaupt nicht gegen Adornos Verdikt verstoßen. Denn die Gedichte in der Tora und in der Haftara sind nicht nach Auschwitz geschrieben worden. Aber wir haben sie nach Auschwitz und am Auschwitz-Gedenktag in der Synagoge gesungen, vorgetragen und gesprochen.
Ich habe ich mich gefragt: Was meint Adorno, wenn er die Lyrik verbietet? Ich bin mir da echt nicht sicher. Ich bin mir auch nicht sicher, ob sich Adorno sicher war. Denn er hat diesen Satz andauernd neu erklärt, verteidigt, in Kontexte gestellt. Was man halt so tut, wenn man sich nicht sicher ist. Schon als Adorno den Satz 1949 geschrieben und 1951 veröffentlicht hat, enthielt er mehrere Fallstricke, doppelte Böden, Hebebühnen. Denn er lautet vollständig: „Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“
Was hat sich Adorno bloß unter einem Gedicht vorgestellt? Kitschige Naturlyrik zum Wegdämmern? Dann wäre der Satz für mich total verständlich. Nur: Adorno muss doch gewusst haben, dass Lyrik nicht nur das ist und meistens mehr ist. Der Mann war Avantgarde-Experte.
Vielleicht meinte er auch: Man kann nicht einmal mehr ein Gedicht schreiben. Das Gedicht als ästhetisch anspruchsvollste Form. Höchste Verdichtung, wie der Name schon sagt. Wenn man nicht einmal mehr Gedichte schreiben kann, was kann man dann noch schreiben und tun? Ein bisschen bezieht Adorno den Satz auch auf sich selbst: Denn der Satz frisst auch die Erkenntnis an, die Adorno gehabt hat. Veröffentlicht hat er die Erkenntnis aber dennoch.
Ich hätte es lieber gehabt, wenn Adorno als Professor gesagt hätte: „Nach Auschwitz eine Vorlesung zu halten ist barbarisch und das frisst auch“… und so weiter… und so fort… Das Dichten zu verbieten, ist einfach, wenn man kein Dichter ist. Ein bisschen dichtet Adorno aber doch: Er greift zum Mittel der Synekdoche. Auschwitz steht für etwas Größeres, Nebulöses: mindestens mal für alle Lager, vielleicht auch für die ganze Schoa. „Auschwitz“ ist hier nur ein Teil, der für das Ganze steht. Wenn Auschwitz bloß eine Chiffre ist, die für ein größeres Problem steht, dann entwertet das auch das Leiden und Sterben derer, die dort waren. Adorno hat hier nicht nur gedichtet, er war an dieser Stelle auch ein schlechter Dichter. Sorry, Teddy.
Den Dichern den Mund verbieten?
Besonders Dichter haben sich an dem Satz gerieben: allen voran Paul Celan, ein Schoa-Überlebender. Paul Celan hat Lyrik nach Auschwitz geschrieben, die die Lager zum Thema hatte. Das berühmteste war seine „Todesfuge“. Celan reagiert scharf auf den Satz: „Was wird hier als Vorstellung von Gedicht unterstellt? Der Dünkel dessen, der sich untersteht hypothetisch-spekulativerweise Auschwitz aus der Nachtigallen- oder Singdrossel-Perspektive zu betrachten oder zu berichten.“ Der Vorwurf: Adorno spricht aus der Vogelperspektive. Aus der Perspektive dessen, der Auschwitz als theoretisches Konstrukt betrachtet. Außerdem macht Celan einen deutlichen Kitsch-Vorwurf, hörbar in den Worten „Nachtigall“ und „Singdrossel“. Ein bisschen „Romeo und Julia“ -Zitat schwingt auch noch mit: War es die Nachtigall oder war es die Lerche?
Wer lebt, spricht auch
Auch viele Dichter ohne Verfolgungserfahrungen in der Schoa haben sich an dem Satz gerieben: Hans Magnus Enzensberger, selbst Lyriker und auch Herausgeber internationaler Lyrikanthologien, mit denen er den Deutschen einen Sinn für ästhetisch anspruchsvolle Lyrik beigebracht hat, schrieb 1959 in einer Rezension eines Lyrikbandes von Nelly Sachs: „Wenn wir weiterleben wollen, muss dieser Satz widerlegt werden. Nur wenige vermögen es. Zu ihnen gehört die Lyrikerin Nelly Sachs.“ In früheren Jahren war ich begeistert von Enzensbergers Entgegnung. Heute bekomme ich Fremdschämen. „Wenn wir überleben wollen“: Das schreibt ein 30jähriger Mann, dessen Leben durch die Schoa in keiner Weise bedroht war. Durch Enzensberger ist Adornos Satz überhaupt erst bekannt geworden, lese ich im Netz. Und man muss Enzensberger zugute halten. Er hat die Idee ausgesprochen, dass Lyrik dem Grauen der Lager standhalten muss. Die Sprache der Lyrikerinnen und Lyriker darf das Grauen nicht ignorieren. 1959 war das in Deutschland eine Erkenntnis.
Robert Gernhardt ist ein Lyriker aus dem Umfeld der Zeitschrift Titanic und hat sich speziell für das komische Gedicht stark gemacht. Mit einem solchen entgegnet er 1966 auch Adorno:
Frage
Kann man nach zwei verlorenen Kriegen,
Nach all dem Schlachten, schrecklichen Siegen,
Nach all dem Morden, all dem Vernichten,
Kann man nach diesen Zeiten noch dichten?
Die Antwort kann nur folgende sein:
Dreimal NEIN!
Robert Gernhardt setzt bewusst plumpe Mittel ein. Sechs Zeilen in Paarreimen. Das allereinfachste Reimschema, bei dem sofort jeder und jede merkt: Aha, das reimt sich, das ist ein Gedicht. Die Aussage, dass man nicht mehr dichten könne, steht im bewussten Widerspruch zu dieser einfachen, klaren Gedichtform. Ich verstehe Robert Gernhardt so: Wir können gar nicht aufhören zu dichten. Wer spricht, kann auf die Mittel der Sprache nicht verzichten.
Verzicht auf das Wort „Ich“
Adorno hat seinen Satz immer wieder modifiziert, und er hat die Legitimität von Celans Dichtung hervorgehoben. 1966 schreibt Adorno in der „Negativen Dialektik“: „Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben.“ Das ist mindestens mal eine Teilrücknahme. Die „Gemarterten“ dürfen brüllen, auch im Gedicht, Adorno sei Dank. Es geht noch weiter: „ Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen.“ Adorno gesteht ein, dass seine Frage mit Lyrik und Kultur nichts zu tun hat. Dann geht er aufs Ganze: Thema ist jetzt das Überleben-Dürfen. Vielleicht benennt Adorno hier sein eigenes Trauma als Überlebender: Wie konnte ich überleben und andere nicht? Warum bin ich nicht ermordet worden? So persönlich gelesen ist der Satz tatsächlich „nicht falsch“, wie Adorno sich selbst attestiert. Ein Trauma ist nicht richtig oder falsch.
Adorno benutzt hier aber den Duktus der Objektivittät, er sagt nicht „ich“. Objektiv gelesen ist die Frage leider ein Riesenproblem. Natürlich dürfen und sollen Überlebende weiter leben. Ich frage mich: Warum ist Adorno hier nicht persönlich geworden? Erste Antwort: Ich weiß es nicht. Zweite Antwort: Ich habe eine Vermutung. Vielleicht sind die objektivierenden Sätze Folge des Traumas. Vielleicht ließ sich das schlechte Gewissen der Überlebenden schmerzärmer benennen, wenn es im Duktus der Objektivität daherkommt.
Dichten und Überleben: Das ist ein Grundmotiv meiner Überlegungen und kam in fast allen Beispielen vor. Ich schreibe dies in einer Zeit, da die Hamas „Tage der Wut“ gegen Jüdinnen und Juden weltweit ausruft und in der die Zahl antisemitischer Taten drastisch angestiegen ist. Das Grundmotiv vom Dichten und Überleben kommt schon in den biblischen Texten von Schabbat Schira vor. Die Israeliten singen, nachdem sie ihre Verfolger abgehängt haben, nachdem sich das Meer geteilt und wieder geschlossen hat. Und sie singen, bevor neue Verfolger auftauchen, das Volk Amalek. Die Prophetin Deborah stimmt im Buch „Richter“ nach einem militärischen Sieg einen Gesang an – einen Siegesgesang.
Tu das, was dir gut tut
Ich kann ein paar Schritte mit Adorno mitgehen. Manchmal denke ich: Bei allem, was wir tun und treiben, müssen wir an dieses riesige Menschheitsverbrechen denken, an die Schoa. Und dann merke ich: Ich kann das selber nicht durchhalten. Ich kann nicht bei allem, was ich tue und treibe, an die Schoa denken. Manchmal ja, aber nicht immer. Es wäre zum Wahnsinnigwerden.
Nach dem Gottesdienst am Samstag habe ich mich noch mit der Vorbeterin unterhalten. Sie sagte in einem völlig anderen Zusammenhang (es ging um eine Karrierefrage): „Die jüdische Tradition sagt immer: Achte auf dich. Tu das, was dir gut tut.“ (aus dem Gedächtnis zitiert)
Dichtern und überleben, man kann das Motiv auch so drehen: Nur wer überlebt, kann noch dichten. Wer lebt, muss sprechen, das gehört zum Menschsein dazu. Sprechen und Dichten sind Akte der Selbstbehauptung.
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