Gab es in früheren Zeiten mehr Wir-Gefühl? Mehr Harmonie? Mehr Konsens? Oder ist das Wir-Gefühl vielleicht eine Fata Morgana? Diejenigen, die das Wir-Gefühl vermissen : Trauern sie vielleicht einer Zeit nach, als die Gesellschaft weiß, männlich, hetero und christlich geprägt war? Als Migrantinnen und Migranten noch „Gastarbeiter“ genannt wurden? Eine hitzige Diskussion unter Freunden.
Von Gerald Beyrodt (geschrieben im Januar 2022)
Mein Freund Martin findet, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet, und dass es früher noch ein Wir gab. Ich höre mir das gestern alles am Telefon an, ich weiß, was jedes seiner Worte zu bedeuten hat, ich bin deutscher Muttersprachler. Doch irgendwie verstehe ich vieles nicht. Martin regt sich über die Corona-Leugner auf, das verstehe ich noch. Aber was denn für ein Wir, was denn für ein Zusammenhalt? Ich frage erst mal nach, wann denn früher war. „Ja, so vor 40 Jahren“, da war Martin 20. „Vielleicht ist es auch vor 50 Jahren“, meint Martin. Er hört sich traurig an, als ob er etwas verloren hätte. Heute sei die Gesellschaft gespalten.
Hetero? Nicht schlimm!
Mein Freund Martin ist hetero. „Ich finde das überhaupt nicht schlimm. Ich habe da gar nichts dagegen,“ sage ich zu Martin. „Andere haben Lese-Rechtschreibschwäche.“ Und Martin ist sowas von deutsch. Auch das ist o.k. Ich bin selber deutsch. Wir haben alle unsere Fehler. Martin hat keinerlei Migrationshintergrund. Beide Eltern protestantisch zudem.
An anderen Tagen findet Martin meine Vergleiche von Heterosexualität und Lese- Rechtschreibschwäche super, heute nicht. Heute fragt er mich etwas gekränkt, was denn das mit dem Wir-Gefühl zu tun hat. Ich sage: „Vor 40 Jahren, als Du Deine Wir-Gefühle hattest, gab es einen Paragrafen 175.“ Martin schaut mich fragend an. „Einen Paragrafen, der Homosexualität unter Männern unter Strafe stellte. Übrigens galt der Paragraf in einer Fassung aus der Nazizeit. Migranten hießen Gastarbeiter oder Ausländer. Und Frauen? Naja, meine Mutter, die gearbeitet hat und das in einem gutbezahlten akademischen Beruf, war eine absolute Ausnahmeerscheinung. Die meisten Mütter meiner Mitschülerinnen und Mitschüler waren Hausfrauen.“ „Das ist deine Leserechtschreibschwäche“, sagt Martin, „Du bist so gutbürgerlich aufgewachsen in deiner Vorstadt, das war bei mir anders.“ Da hat er einen Punkt.
„Wir wussten immer, dass es Frauen gibt“
Ich sage: „Dein Wir von 1980 oder 1970 hat ganz schön viele Menschen ausgeschlossen. Und ich frage mich, ob ihr so viel Zusammenhalt gefühlt habt, weil ihr euch einbilden konntet, alle seien gleich: männlich, hetero, total deutsch, christlich natürlich.“- „Wir wussten immer, dass es Frauen gibt“, erwidert Martin. „Glaube ich Dir aufs Wort,“ sage ich, „das habt ihr in der Bravo gelesen. Die Frage ist doch: Ist Unterschiedlichkeit denn so furchtbar schlimm? Ist dein Zusammenhalt wirklich mehr als Einheitssauce? Ist es automatisch gut, wenn alle dasselbe tun und denken? Verschiedene Religionen, Herkünfte, Gender und Sexualitäten – das ist doch eine große Chance. Sogar Heterosexualität kann eine Chance sein,“ sage ich. „Nein, ich weiß, nehme ich zurück, heute keine Witze über Heteros. Jedenfalls kann das alles eine Chance sein“, sage ich.
Aber Martin ist nicht zufrieden. Er ist deutscher Muttersprachler, er versteht jedes meiner Worte, aber ihm fehlt halt etwas. Irgendwie hatten Martin und ich früher mehr Wir-Gefühl.
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