Entschuldigung am Seerosenteich

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Als wir in kleiner Runde den 90. Geburtstag meiner Mutter feiern und wir im Garten des Pflegestiftes die Sonne genießen, blitzt plötlich fast ein Jahrhundert deutscher Geschichte auf.

Von Gerald Beyrodt

Vor einiger Zeit haben wir den 90. Geburtstag meiner Mutter gefeiert. Ihre beste Freundin war da. Nennen wir sie Helga. Sie ist ebenfalls 90. Die beiden kennen sich seit über 60 Jahren, sagt Helga, sie haben gemeinsam im juristischen Repetitorium gesessen. Zu einer Zeit, als ein solches Studium für Frauen sehr ungewöhnlich war. Jetzt sitzt meine Mutter in ihrem Rollstuhl im Café des Seniorenstiftes, Helga ist mit dem Taxi und dem Rollator gekommen. Sie trägt ein elegantes Kleid und eine schicke Frisur.

Nach dem Kaffee sind wir nach draußen gegangen, in den Garten des Wohnstiftes. Wir blicken auf den Teich mit den Seerosen, da steht Helga auf und sagt: „Liebe Ursula, an Deinem 90. Geburtstag möchte ich mich für das entschuldigen, was man dir und deiner Familie angetan hat. Und ich möchte mich auch stellvertretend für diejenigen entschuldigen, die sich nicht entschuldigt haben.“ Meine Mutter hat den Nationalsozialismus als jüdisches Kind in Berlin erlebt.1939 ist sie nach England geschickt worden, ohne Eltern versteht sich, aber überlebt hat sie.

Feuchte Augen, trockene Augen

Jetzt zeigt meine Mutter zeigt keine Regung. Sie ist schwerhörig und hat wahrscheinlich kein Wort verstanden. Also wiederhole ich Helgas Rede mit sehr lauter Stimme. Weiterhin zeigt meine Mutter nicht viel Reaktion. Ich dagegen bekomme feuchte Augen. Ich wische sie mir so unauffällig wie möglich ab. Wer bin ich, feuchte Augen zu haben, wenn meine Mutter trockene Augen hat? Ich frage mich, warum meine Mutter kaum reagiert. Vielleicht ist sie einfach nur müde, lange Gespräche erschöpfen sie. Während des Kaffeetrinkens hat sie wohl wenig mitbekommen. Vielleicht ist auch ihre nüchterne Art der Grund.

Helgas Vater durfte nach 1945 nicht mehr in seinem Beruf als Schulleiter arbeiten. Er ist entnazifiziert worden, sagt Helga. Sie erzählt, ihr Vater sei bei der SA gewesen. Nein, ein Nazi war er nicht, sagt sie. Und gleich schiebt sie hinterher, dass sie das ganz schwer sagen könne. Sie sei ja die Tochter. Ich habe das Gefühl, Helga hat ihr ganzes Leben mit dieser Frage gerungen, bis heute.

Die Verständigung mit Worten ist schwierig. Nie kann meine Mutter verstehen, was Helga sagt. Immer muss ich mit lauter Stimme dolmetschen. Doch Helga schaut meine Mutter an, fasst sie am Arm, meine Mutter schaut zurück. Die beiden verstehen sich auch ohne Worte. Und dann sagt Helga: „Wer hätte jemals gedacht, dass wir so alt werden.“

(geschrieben August 2022)


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