Schuld und Sühne zwischen zwei Meetings

Avatar von jakob68

Zwischen Bedürfnisanalysen, Konferenzen und Angebotslandkarten soll bei mir innere Einkehr stattfinden, denn im September sind die jüdischen Hohen Feiertage.

Von Gerald Beyrodt

(September 2023)

Für die Septemberwochen braucht mich keiner nach einem Termin zu fragen. Diese Mischung aus Feiertagen und Arbeit macht mich fertig. Bei der Arbeit sind alle aus dem Sommer zurück, dauernd gibt es Konferenzen, neue Sendungen, neues digitales Schnulibulli, Besprechungen zu Sinus-Gruppen-Millieus, nebulöses Geraune über die Vorhaben der Angebotssteuerung, und dazwischen Avinu Malkenu.

Als ich neulich einen Termin in den Oktober verschieben wollte, grinste eine Kollegin: „Du hast wohl Feiertagsstress.“ Vermutlich hat sie sich Lebkuchen-Mampfen und gemütliches Beisammensein vorgestellt. An 25 Stunden Fasten hat sie eher nicht gedacht. Wenn ich schon Feiertage und Arbeit unter einen Hut bringen muss, warum müssen an dann ausgerechnet Feiertage sein, an denen ich mich mit meinen Sünden auseinandersetzen soll? Schuld und Sühne zwischen zwei Meetings: Hallo?

Ich will nicht sagen, dass es die Christen leicht haben mit ihrem Advent. Sie müssen andauernd überzuckerten Glühwein trinken, auf lärmende Weihnachtsmärkte gehen, schlecht trompetetes „Alle Jahre wieder“ in der Fußgängerzone ertragen, Geschenke für Verwandte kaufen, die sie nicht mögen, ein Christuskind verehren, das drei Monate später gekreuzigt wird – das alles ist nicht schön. Aber wenigstens haben sie an Weihnachten frei. Sie müssen sich nicht überlegen, ob sie am 25. arbeiten, wenn sie sich schon Heiligabend freinehmen. Sie müssen auch keinem erklären, dass der 25. Dezember nicht geeignet ist, um Key Results zu besprechen.

In letzter Zeit hat das Deutsch oder Denglisch bei meiner Arbeit immer mehr Einzug. Plötzlich analysieren wir „Zielgruppen“, erstellen „Angebotslandkarten“ und führen Bedürfnisanalysen durch. Ich verstehe überwiegend Bahnhof. Und plötzlich kommt mir der Machsor der Hohen Feiertage einfach vor.


Hinterlasse einen Kommentar