Gebete und Einkaufszettel

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Ich habe den Verdacht, dass diejenigen, die so eilfertig im Siddur den Rotstift ansetzen, das Gebet behandeln wie einen Einkaufszettel: Tempel? Tieropfer? Brauchen wir nicht, empören uns vielleicht sogar, können weg vom Zettel.

Von Gerald Beyrodt

(März 2023)

so lange ich mich in liberalen und konservativen Synagogen aufhalte, höre ich Diskussionen über die Frage, ob man dies und jenes im Gebet sagen könne und nicht eher weglassen müsse. Gerne machen sich solche Diskussionen am Tempel, am Tieropfer und am Messias fest. Oder auch an Versen wie diesen aus dem Tischgebet: „Ich war jung, nun bin ich alt, aber nie sah ich einen Gerechten verlassen und seine Nachkommen um Brot betteln.“ Das Argument gegen diese Verse: Es gebe so viel Ungerechtigkeit in der Welt, da sei eine solche Behauptung abwegig. Mehr noch: Sie sei geradezu eine Ohrfeige für alle, denen es nicht gut geht. Manche flüstern diese Verse beim Tischgebet.

In solchen Diskussionen schwingt unausgesprochen die Frage mit: Was tun wir, wenn wir beten? Und die noch viel größere Frage, was wir tun, wenn wir sprechen und schreiben. Ich habe den Verdacht, dass diejenigen, die so eilfertig im Siddur den Rotstift ansetzen, das Gebet behandeln wie einen Einkaufszettel: Tempel? Tieropfer? Brauchen wir nicht, empören uns vielleicht sogar, können weg vom Zettel. Wenn ich auf den Einkaufszettel schreibe, dass ich Hafermilch brauche, habe ich eine klare Vorstellung. Ich habe das Zeug schon hundert mal gekauft. Wie klar ist meine Vorstellung, wenn ich „Gesegnet“, „“Gelobt“, „Tempel“ und „Opfer“ sage? Manche sehen Gebete offenbar auch als Weltbeschreibungen an: Es trifft nicht zu, dass Gerechte immer genug zu essen haben, also muss der Vers weichen.

Gebete sind auch Zumutungen

Wenn man Gebete als Tatsachenbeschreibungen ansieht, kann man sich fragen, ob nicht viel, viel mehr gestrichen werden muss. Kann man wirklich sagen, dass Gott groß, mächtig und erhaben ist (wo wir, wenn wir ehrlich sind, so furchtbar wenig von Gott wissen)? Kann man wirklich sagen, dass er die Toten belebt? Wie viel bleibt übrig, wenn man so an Gebete herangeht? Ich will nicht sagen, dass Streichungen immer und in jedem Fall falsch sind. Ich wundere mich aber über das Verständnis vom Gebet, das oft mit ihnen einhergeht. Und ich frage mich, was wir verpassen, wenn wir streichen.

Für mich sind Gebete auch Zumutungen. Sie konfrontierten mich mit einer Welt, in der ich mich überhaupt nicht gut auskenne. Nicht alles, was in ihnen vorkommt, kann ich direkt unterschreiben. Manches ist geradezu kontrafaktisch. Mit vielem ringe ich. Es stimmt nicht, dass die Nachkommen von jeder und jedem Gerechten genug zu essen haben. Es sollte aber so sein. Sicher sollten auch die Nachkommen der Ungerechten genug zu essen haben. Was ist das für eine Welt, in der der Satz nicht zutrifft? Was ist das für ein Gott, der den Satz nicht wahrmacht? Gebete sind Zumutungen für die Menschen und für Gott. Häufig benennen sie den Riss, der durch die Welt geht.


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